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gut kennt und versteht, hat er bei der Übersetzung durchaus die Wahl der Stimmgebung. Ohne die Ebene der elocutio zu verlassen, können zum Beispiel ältere Werke neu ‚gestimmt‘ werden (vgl. dazu Kohlmayer 2016).

      6 Novalis (und Schlegel) sprechen von „der“ Stimme im Singular. Ein Text hat also – und sei er noch so unterschiedlich, vielfältig, in sich zerstückelt und collagiert (wie z. B. Jelineks Texte) – für den einfühlsamen Leser (oder Übersetzer, Hörbuchsprecher) immer eine privilegierte Art des Lesens, weil man eben nicht gleichzeitig zwei- oder mehrstimmig lesen kann. Über die optimale Lektüre kann man streiten, aber man muss stimmlich immer eine Wahl treffen. Für Literaturübersetzer gibt es keine neutrale, interpretationsfreie Lektüre. Das bedeutet, dass man extrem hermetischen, meditierenden Texten oder Passagen, die ja einen wichtigen Teil der (post‑)modernen Literatur ausmachen, nur stumm-hermeneutisch, aber niemals rhetorisch-performativ gerecht werden kann. Viele moderne Gedichte erschließen sich nicht beim lauten Lesen, sondern höchstens beim nachdenklichen Enträtseln und Konstruieren.8 Hier stößt man bei der Suche nach der „schriftlichen Stimme“ – und der (ent‑)sprechenden Übersetzung – an eine Grenze der Sprech- und Übersetzbarkeit: Es ist oft unmöglich, Mehrdeutigkeit mehrdeutig zu übersetzen. Manche Texte sind daher auch für Hörbücher wenig geeignet. Wenn rätselhafte Gedichte oder hermetische Texte bei Dichterlesungen laut vorgetragen werden, geschieht es meistens in einer ‚entrückt-pathetischen‘ Monotonie, die an Gebete oder Psalmen erinnert: Das deklamierende Subjekt verzichtet auf rhetorisch-psychologische Mündlichkeit und nimmt sich als verstehendes und denkendes Individuum völlig zurück. Meist enthalten solche Texte aber auffällige musikalische Strukturen (Assonanzen, Konsonanzen, Alliterationen usw.), die als akustisch-musikalische Kohärenzstifter funktionieren (Kohlmayer 2015a: 250–255).

      7 Zu dem Problem von Text und Stimme ist gerade in den letzten Jahrzehnten viel Literatur erschienen, die aber weder Herder noch Novalis berücksichtigt. Typisch ist Theo Hermans 1996 (vgl. Fußnote 21) oder das Buch von Michael Eggers (2003) mit dem vielversprechenden Untertitel Theorien der Stimme. Während Novalis (wie Schlegel) „Stimme“ konkret versteht im Sinne der tatsächlichen rhetorischen Programmierung des Lesens durch die Schrift bzw. des Heraushörens der deklamierenden Stimme aus der Schrift, ist für Eggers (und die literaturwissenschaftlichen Theoretiker) „Stimme“ zu einer Metapher des Subjekts oder Ichs geworden (Eggers 2003: 131). In der Antike sei „immer mit der Stimme, also laut gelesen“ worden (Eggers 2003: 61); im 18. Jahrhundert sei das Lesen „zunehmend lautlos“ geworden (Eggers 2003: 68), und gleichzeitig habe sich ein rapider Bedeutungsverlust der Rhetorik vollzogen (Eggers 2003: 153). Novalis’ „schriftliche Stimme“ scheint mir (im Gefolge Herders) quer zu dieser rein literaturwissenschaftlichen Deutung zu stehen und die Brücke zwischen der Schwächung der traditionellen Rhetorik und dem stummen Lesen seit dem 18. Jahrhundert zu schlagen: Die Lektüre soll zum inneren Heraushören der Verfasser- oder Übersetzerstimme werden. Eggers liefert den germanistischen Beweis für das, was Helmut Schanze als rhetorisches Forschungsdefizit formulierte (vgl. Fußnote 16).

      Die in Schrift gebannte Stimme ist der Dreh- und Angelpunkt der Vermittlung zwischen Autor und Leser und kann dem Übersetzer folglich als subjektiver Navigator und als tertium comparationis dienen. Dieses tertium comparationis liegt natürlich nicht fest wie eine vereinbarte Industrienorm; außerdem kann ohnehin kein Autor einem Leser irgendetwas aufzwingen, weder semantisch noch akustisch. Sprache ist, ob rhetorisch-persuasiv oder poetisch-verfremdend eingesetzt, immer ein Beeinflussungs-Versuch. Aber die selbstverständliche Varianz und Relativität der individuellen Rezeption und Interpretation, die Rezipientenabhängigkeit der Sinn- und Stimmgebung, sollte nicht dazu führen, dass die Existenz der „schriftlichen Stimme“ überhört oder ignoriert wird. Es wird niemals ein objektives tertium comparationis geben, wohl aber immer ein nicht-beliebiges subjektives Hörverstehen des geschriebenen Textes. Der Spielraum des übersetzerischen Verstehens und Reproduzierens ist begrenzt. Die Art, wie ‚man‘ (d. h. hier: das lesende und übersetzende Individuum) den Text liest (‚agiert‘, ‚intoniert‘, ‚mimt‘, ‚verkörpert‘, ‚interpretiert‘ usw.), prägt die Art, wie ‚man‘ übersetzt. Die rhetorisch-akustische Verkörperung des literarischen Textes ist in Deutschland seit Johann Gottfried Herder, Carl Gustav Jochmann,9 Friedrich Nietzsche,10 Karl Kraus11 (um nur die Koryphäen zu nennen) und bis in die Gegenwart im Bewusstsein der Autoren und literarischen Übersetzer eine nie bezweifelte ästhetische Realität, von der in den Theorieentwürfen der neu entstandenen akademischen Übersetzungswissenschaft der letzten fünfzig Jahre wenig zu bemerken war.

      Um auf Schlegels „angekränkelt“ zurückzukommen: Schlegel ahmt nicht nur punktuell-kreativ die Wortbildung des englischen Textes nach, sondern „die schriftliche Stimme“ Hamlets und die der anderen Figuren, er folgt ihrem Sprechduktus (nicht der englischen Grammatik oder Lexik); er folgt als „philologischer Mime“12 möglichst eng der linearen Spur des Sprechens, der Pausen, des Atemholens, der Emphase, wie man schon an den Satzzeichen erkennen kann. Schlegel übersetzt keinen ‚stummen‘ Text, sondern Rollen und Stimmen.13 Literarisches Übersetzen ist der Versuch, die Sprechweise des Autors oder seiner Figuren im Deutschen nachzuahmen – oder nachzudichten, wie man dazu auch sagen könnte. Genau das meint wohl Novalis, wenn er am 30.11.1797 an A. W. Schlegel schreibt: „Übersetzen ist so gut dichten, als eigne Wercke zu stande bringen – und schwerer, seltner“ (Novalis 1976: 182). Die akustische Nachahmung setzt viel sprachliches und kulturelles Wissen und viel sprachkünstlerisches Können voraus. Wer die Fremdsprache nur aus Texten gelernt hat, stößt hier zwangsläufig an eine Grenze des Könnens. Ich will diesen Prozess der Stimmenimitation an einem kurzen Beispiel erläutern. In Oscar Wildes Komödie An Ideal Husband steht folgender Dialog zwischen zwei jungen Damen:

      MRS MARCHMONT: Olivia, I have a curious feeling of absolute faintness. I think I should like some supper very much. I know I should like some supper.

      LADY BASILDON: I am positively dying for supper, Margaret!

      (Wilde 1983: 154)

      Im Englischen haben wir eine lexikalisch einfache Sprache, die aber durch den dazugehörenden und dazu zu hörenden Tonfall (Kohlmayer 1997: 62–64) erheblich an Musikalität, sozialem Hintergrund und an Komik gewinnt. Jeder, der dergleichen Party-Talk in exaltiertem upper class-Englisch einmal gehört hat (ob auf Partys oder im Theater oder Kino), dürfte vermuten, dass bei dem Wort „dying“ fast ein Oktavsprung mit entsprechender Mimik zu erwarten ist. Wollschläger übersetzt mit dem entsprechenden phonetischen Wissen und reproduktiven Können:

      MRS MARCHMONT: Olivia, ich fühle mich auf einmal ganz komisch flau. Ich glaube, ein kleines Souper würde nichts schaden. Ja, ein kleines Souper würde mir gar nicht schaden.

      LADY BASILDON: Souper! Ich vergehe regelrecht vor Hunger, Margaret!

      (Wilde 1986: 31)

      Wollschläger produziert im Deutschen eine moderne, snobistische Schickeriasprache, die sehr gut die soziale Nuance und akustische Theatralität des Originals reproduziert. Er kompensiert dabei das Fehlen einer sozial gehobenen Aussprache und Intonation im Deutschen dadurch, dass er den Text lexikalisch erhöht und preziöser macht und so dem (einfühlsamen) Leser oder Schauspieler ein vergleichbares Hörerlebnis suggeriert, wie es die Stimmen (die pronuntiatio) im englischen Original nahelegen.

      Worin besteht also die Kreativ-Kompetenz Wollschlägers? In der Übersetzung/Ersetzung der gehobenen Aussprache durch eine gehobene Lexik? In der kreativen Wiedergabe der Alliteration von „feeling“ und „faintness“ durch „fühle“ und „flau“? In den snobistischen Untertreibungen von „kleines Souper“ und „würde nichts schaden“? In der Hinzufügung von Lady Basildons gestischem Ausruf des nobel klingenden französischen „Souper!“, was ungefähr die Emphase des engl. „dying“ erreicht? In der deutschen Redewendung „vor Hunger vergehen“, die die Situation der jungen Snobs ebenso komisch überdramatisiert wie das „dying for supper“? Die Antwort lautet wohl: diese (und die sonstigen) geschickten kleinen Änderungen sind Mittel, die schriftlichen Stimmen im Deutschen möglichst ähnlich nachzubilden. Die eigentliche Kreativität des Übersetzers Wollschläger besteht in der

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