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auch wenn darin einzelne Übersetzungsprobleme durchaus kreativ gelöst wurden; wie es umgekehrt vorkommt, dass eine Übersetzung insgesamt ästhetisch gelungen ist, auch wenn sie einzelne Fehler und Mängel enthält. Hier liegt einer der Stolpersteine einer relevanten literarischen Übersetzungskritik.3 Kurzgesagt: Es kommt beim Literaturübersetzen gerade nicht nur auf die Lösung punktueller Schwierigkeiten an, sondern auf das Konzept des Ganzen. Literaturübersetzen ist, auch wenn es anscheinend nur die lineare Abfolge der elocutio-Stufe betrifft, eine synthetisch-ganzheitliche Tätigkeit.

      Der zweite Einwand könnte von Fachübersetzern vorgebracht werden: Die Arbeit der Sach- und Dokumenten-Übersetzer beginnt nicht erst auf der Stufe der elocutio. Führerscheine, Gebrauchsanweisungen, Geschäftsbriefe, Zeugnisse, Kochrezepte usw. haben oft in der Ausgangs- und in der Zielsprache ein unterschiedliches Format. Sie sind bereits auf der Ebene der dispositio, womöglich auch schon auf der der Fakten (Topik) anders zu übersetzen, als der Blick auf das Originaldokument suggeriert. Hier liegen oft fach- oder kulturspezifische Text-Muster vor, die zu erfüllen sind. Aber diese unterschiedlichen Textsortenerfordernisse (Änderungen des Briefkopfes, der Reihenfolge der Informationen usw.) würde ich auch nicht als kreative Herausforderung bezeichnen, da es ja nur um die intelligente Erfüllung normativer Textmuster geht. Wenn der Zweck oder die Angemessenheitskriterien routinemäßig vorgegeben sind, bleibt meines Erachtens nur genau jener punktuelle Spielraum für kreative Lösungen, wie Kußmaul und Bayer-Hohenwarter sie aus ihren Ton-Dokumenten herausdestillieren und analysieren.

      Die literarischen Übersetzer erfinden keine neuen Geschichten, keine neuen Figuren, Situationen oder Gliederungen: Sie übernehmen die fertigen Texte samt ihrer Gliederung als Übersetzungsauftrag. Ihre kreative Arbeit beginnt und endet in der Regel (also abgesehen von präzisen Änderungswünschen des Verlags) auf der Ebene der elocutio.4 Gregory Rabassa formuliert das etwas drastischer:

      The translator, we should know, is a writer too. As a matter of fact he could be called the ideal writer because all he has to do is write; plot, theme, character, and all the other essentials have already been provided, so he can just sit down and write his ass off. (Hier zitiert nach Wright 2016: 53)

      Jeder Literaturübersetzer weiß jedoch, dass der tatsächliche Übersetzungsprozess weder mit dem Drauflosschreiben beginnt noch darin besteht.

      3 Die „schriftliche Stimme“ (Novalis) als kreative Herausforderung

      Die spezifische Kreativität des Literaturübersetzens erstreckt sich auf die Stufe der elocutio, was aber – auch wenn man ‚Stil‘ dafür sagt – immer noch eine ziemlich abstrakte, tautologische Beschreibung wäre. Die Vorstellung, dass Literaturübersetzen lediglich im Lösen punktueller stilistischer Text-Schwierigkeiten (wie bei Metaphern, Wortspielen, Stilebenen) besteht, was natürlich auch zur Arbeit der Literaturübersetzung gehört, greift zu kurz und deckt sich nicht mit den Erfahrungsberichten von gestandenen LiteraturübersetzerInnen (Kohlmayer 2002). Oben wurden bereits einige holistische Konzepte wie Mimesis, Performanz, Empathie, Mündlichkeit, Haltung usw. aufgezählt, die in den Selbstaussagen von Literaturübersetzern eine wichtige Rolle spielen. Lassen sich diese holistischen Perspektiven praxisrelevant bündeln und theoretisch auf einen synthetischen Begriff bringen? Genauer gefragt: wie lässt sich auf der Stufe der elocutio das Kernproblem des Literaturübersetzens so formulieren,

       dass es nicht zur Reihenfolge kreativer Lösungen stilistischer Einzelprobleme schrumpft;

       dass es mit den holistischen Selbstaussagen von Literaturübersetzern kompatibel ist;

       dass es nicht zu abstrakten Prinzipien verdunstet, die mit der Praxis der literarischen Übersetzung „wenig zu tun“ haben (Kopetzki 2015: 77).1

      Die Antwort auf diese Frage besteht darin, dass die elocutio als vorweggenommene Performanz betrachtet wird: der literarische Textproduzent ist gleichzeitig der kritische Leser seines eigenen Textes, der seinen Text stilistisch bearbeitet, damit er die Art der Lektüre und des Verstehens in seinem Sinne optimal zu steuern oder zumindest zu beeinflussen hoffen darf. Er versucht, im lauten oder leisen oder imaginierten Ausprobieren des Geschriebenen die Stufe der actio und pronuntiatio seines Textes möglichst mit zu bestimmen (wer immer die Leser sein mögen!). Und für das Resultat dieser rhetorisch-hermeneutischen Textarbeit hat Novalis, der ja mit den Brüdern Schlegel jahrelang befreundet und mit deren Übersetzungstheorie und ‑praxis eng vertraut war, Anfang 1799 den ausgezeichneten Begriff „die schriftliche Stimme“ geprägt.

      Wie die Stimme mannichfaltige Modificationen in Ansehung des Umfangsder Geschmeidigkeit – der Stärkeder Art (Mannichfaltigkeit) – des Wolklangs – der Schnelligkeit – der Praecision oder Schärfe hat – so ist auch die schriftliche Stimme oder der Styl auf eine ähnliche Weise unter mannichfachen Gesichtspunkten zu beurtheilen. Die Stylistik hat ungemein viel Aehnlichkeit mit der Declamationslehre – oder der Redekunst im strengern Sinne.

      Rhetorik ist schon ein Theil der angewandten Rede und Schreibekunst. Außerdem gebraucht sie die angewandte geistige, oder psychologische Dynamik – und die angewandte, specielle Menschenlehre überhaupt mit in sich. (Novalis 1976: 64; Hervorhebungen im Original)2

      Novalis verdichtet die rhetorische Vorstellung, dass die elocutio eine bestimmte akustische Performanz suggeriert, in dem hybriden Ausdruck „die schriftliche Stimme“. Dieses Oxymoron, das eigentlich eine logische Unmöglichkeit bezeichnet, ähnlich wie ein „mündliches Buch“, wie Novalis anderswo schreibt (Novalis 1957: 340), hat die Wirkung jedes guten Oxymorons: Es zwingt den Leser zur Reflexion und zu dem Gedanken, dass die Zeichen auf dem Papier die Spuren einer lebendigen menschlichen Stimme sind, die zum Leser sprechen und gehört werden kann.

      Dies entspricht August Wilhelm Schlegels eigener Vorstellung davon, was beim literarischen Text zu übersetzen bzw. dem Leser zu vermitteln sei: der einfühlsame Leser wiederholt und erneuert beim Lesen die vermutete (!) rhetorische Textarbeit des Autors oder auch des Übersetzers: „Sobald aber diese Zeichen wieder durch die Stimme belebt werden sollen, so muß der Leser den Ausdruck hinzubringen, mit welchem er vermuten kann, daß der Urheber eines Gedankens ihn ausgesprochen hätte“ (Schlegel 1962: 153).3

      Wie actio und pronuntiatio den Übergang von der Schrift zur Körperlichkeit der Orator-Präsenz bezeichnen, so verbürgt die „schriftliche Stimme“ dem Lesenden die Präsenz eines menschlichen Textproduzenten. Novalis und Schlegel sehen das Vermitteln von Literatur – ob direkt oder per Übersetzung – als imaginierte akustische Leser-Beeinflussung.

      Es lohnt sich, über die analytischen Implikationen von Novalis’ wahrhaft genialer Formulierung „die schriftliche Stimme“ etwas ausführlicher nachzudenken:

      1 Die literarische Schriftlichkeit wird von Novalis (und Schlegel) als intendierte Mündlichkeit verstanden, was bereits Herder betont hatte.4

      2 Es handelt sich nach Novalis (und Schlegel) um eine lebendige menschliche Stimme. Bei toten Sprachen hat der Übersetzer naturgemäß größere Freiheit bei der hypothetischen Stimmgebung.5

      3 Der literarische Text wird nach Novalis (und Schlegel) als Hör-Erlebnis produziert und gelesen. Novalis (und Schlegel) sprechen von „Stimme“, wodurch das Lesen individualisiert und körperlich an die jeweilige Person gebunden wird.6

      4 Der literarische Text ist für Novalis (und Schlegel) keine Abfolge punktueller Stilfiguren, sondern erhält seine Kohärenz durch die Ähnlichkeit der Stimme, die durchgehend aus dem Text herauszuhören ist. Wörtliches wie nichtwörtliches Übersetzen orientiert sich immer an der Stimmführung. Die Kohärenz der Übersetzung besteht in der Kontinuität der Orator-Stimme.7

      5 Die „schriftliche Stimme“ ist die Synthese aus dem jeweiligen hermeneutischen Verstandenhaben des Textes und aus dem rhetorischen Nachvollzug im leisen oder lauten oder innerlichen Lesen. Einfacher gesagt: die Art des Lesens ist der Beweis für die Art, wie die Stimme im Text vom lesenden Subjekt verstanden wurde. Ein Übersetzungsvergleich sollte vom Vergleich

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