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„Translatologisch relevante Beziehungen zwischen Hermeneutik und Kreativität am Beispiel der Übertragungskunst von Rainer Maria Rilke”. In: Gil, Alberto / Kirstein, Robert (Hrsg.): Wissenstransfer und Translation. Zur Breite und Tiefe des Übersetzungsbegriffs. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 143–162.

      Gil, Alberto (im Druck): „Übersetzen als multifunktionale Texttransformation. Ein Grundsatzreferat aus der Perspektive der Übersetzungshermeneutik”. In: Klees, Christian / Kugelmeier, Christoph (Hrsg.): Von der Erzählung zum dramatischen Spiel. Wandlungen von Sprache und Gattung von Vergil bis in die Moderne. Saarbrücken: Alma Mater.

      I. Rhetorik und Literatur

      Interpretatio – imitatio – aemulatio: Die Stellung der Übersetzung (im engeren und weiteren Sinn) im Lehrgebäude der klassischen Rhetorik

      Jörn Albrecht (Heidelberg)

      Abstract: In the course of history, rhetoric has undergone a mutation from an art of discourse that aims to improve the capability of speakers to persuade an audience to an art of literary discourse that aims to improve the capability of writers to produce aesthetically perfect texts. The article examines the role of translation in this process, especially as an auxiliary discipline in the context of the trivium, the three medieval arts of the ‘humanities’: grammar, dialectic (logic) and rhetoric. Emphasis is laid on two traditional forms of ‘free’ translation in antiquity: imitatio, an author’s conscious use of features and characteristics of an earlier work, and aemulatio, a form of translation which might surpass the original in artistic value. The first one is illustrated with the example of a poem by Giacomo Leopardi, inspired by a French model; the latter one is exemplified comparing the episode of the “three drops of blood in the snow” in Perceval by Chrétien de Troyes and Parzival by Wolfram von Eschenbach.

      Keywords: Rhetoric, poetics, trivium, imitatio, aemulatio.

      In einem neueren französischen Roman, der sich wie ein Kriminalroman gibt, ohne wirklich einer zu sein, spielen Personen bulgarischer Staatsangehörigkeit oder Herkunft eine herausragende Rolle. Neben bewusst klischeehaft gezeichneten schnauzbärtigen Agenten, die vor nichts zurückzuschrecken scheinen, und dem Fahrer eines Lieferwagens, der mit starkem slawischen Akzent seine Unschuld an einem bedauernswerten Unfall beteuert, obwohl er den berühmten Semiologen Roland Barthes in der rue des Écoles wohl nicht rein zufällig überfahren hat, tritt auch Julia Kristeva auf den Plan. Von Intertextualität oder Polyphonie ist dabei nicht die Rede; Kristeva wird als vorbildliche Hausfrau präsentiert, die ihrem geckenhaften Gatten Philippe Sollers einen sauté de veau vorsetzt. Julenka, wie ihr Vater sie zärtlich nennt, scheint, wie einige andere auch, etwas über ein nach dem Unfall Roland Barthes’ verschwundenes Dokument zu wissen, das, wenngleich es von einer bisher selbst von Roman Jakobson noch nicht entdeckten Sprachfunktion handelt, darüber hinaus von einiger politischer Brisanz zu sein scheint. Selbst Giscard d’Estaing zeigt sich beunruhigt.

      Leider kann dieser Erzählstrang hier nicht weiter verfolgt werden, denn nun tritt eine weitere Persönlichkeit bulgarischer Herkunft in Erscheinung, die uns – gerade noch rechtzeitig – dem im Titel angekündigten Thema näher bringt. Kein Geringerer als Tzvetan Todorov äußert seine Ansichten zur Rhetorik. Diese sei, so der „maigrichon à lunettes affublées d’une grosse touffe de cheveux frisés“, in ihrem Ursprung in eine lebendige Demokratie eingebettet gewesen und habe ausschließlich dazu gedient, die anderen zu überzeugen (gelegentlich auch zu überreden) und Mehrheiten für die eigene Position zu gewinnen. Das habe sich zur römischen Kaiserzeit und im europäischen Feudalismus grundlegend geändert:

      On n’attendait plus du discours qu’il soit efficace mais simplement qu’il soit beau. Aux enjeux politiques se sont substitués des enjeux purement esthétiques. En d’autres termes, la rhétorique est devenue poétique. (C’est ce qu’on a appelé la seconde rhétorique.) (Binet 2015: 185f.)

      Es ist schwer zu entscheiden, ob die hier erkennbare Verengung des Begriffs der Rhetorik auf die elocutio dem ‚wirklichen‘ Todorov oder nicht eher dem Autor geschuldet ist, der ihm diese Äußerung in den Mund legt. Wie dem auch sei, um diese ‚zweite‘ Rhetorik, die sich stark auf die Produktion von Texten und weit weniger auf deren Wirkung konzentriert, wird es auch hier gehen; von Pathos oder Ethos wird kaum die Rede sein. In dem Moment, in dem die Übersetzung als Hilfsdisziplin der Rhetorik auftritt, weist diese bereits eine starke Affinität zum Medium der Schrift auf; der nach allen Regeln der Kunst ausgestaltete Text ist mehr und mehr für Leser anstatt für Hörer bestimmt (vgl. Albrecht 2014: 426).

      In den folgenden beiden Abschnitten muss der Übersichtlichkeit halber zunächst an einige wohlbekannte Fakten erinnert werden, bevor dann im dritten Abschnitt der Versuch unternommen werden soll, auf die freieren Formen der Übersetzung innerhalb des Lehrgebäudes der Rhetorik einzugehen.

      1 Rhetorik und Übersetzung in der Antike

      Für den mit diesem kurzen Aufsatz verfolgten Zweck genügt es, mit der gebotenen Knappheit auf zwei römische Autoren einzugehen, die sich zu Fragen der Übersetzung mit ausdrücklichem Bezug zur Rhetorik geäußert haben, auf Cicero und Quintilian.

      1.1 Marcus Tullius Cicero

      Es gibt kaum einen Abriss der Übersetzungsgeschichte, und sei er noch so knapp, in dem nicht Ciceros Abhandlung De optimo genere oratorum (Cicero 1976 [46 v. Chr.]) Erwähnung finden würde. Neuesten Forschungen zufolge stammt dieser Text möglicherweise gar nicht von ihm (vgl. Albrecht 2014: 426 Anm. 2). Cicero legt dort Rechenschaft ab über zwei (leider nicht überlieferte) Übersetzungen, die er von Reden des Aischines und des Demosthenes angefertigt habe, um zu zeigen, wie rhetorisch ansprechende Reden in lateinischer Sprache gestaltet werden könnten. Da Cicero bei der Schilderung seines Vorgehens versichert, er sei bei seiner Übertragung nicht wie ein Übersetzer, sondern wie ein Redner verfahren, i.e. er habe seine Vorlage mit eigenen Worten frei nachgebildet, wurden seine Ausführungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als ein Plädoyer für die „freie Übersetzung“ generell (miss)verstanden. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Fehldeutung einzugehen (vgl. Albrecht 2010). Hier interessiert nur, dass der Meister der „goldenen Latinität“ zumindest indirekt den freien Umgang mit fremdsprachlichen Texten (vgl. infra 3) zur Förderung der eigenen Ausdrucksfähigkeit empfiehlt.

      1.2 Marcus Fabius Quintilianus

      Bei Quintilian geschieht dies in expliziterer Form, wenn dabei auch nicht die freie Übersetzung ins Spiel kommt, zumindest nicht ausdrücklich. Durch ihn wird die Eingliederung der Übersetzung in das System der septem artes liberales, genauer gesagt in das sog. Trivium vorbereitet (vgl. Albrecht 2009: 875 und infra Abschnitt 2). Im zehnten Buch seiner Institutio oratoria weist er darauf hin, dass schon die alten römischen Redner (veteres nostri oratores) das Übersetzen aus dem Griechischen (vertere Graeca in Latinum) für eine ausgezeichnete Übung zur Schulung der eigenen Ausdruckfähigkeit erachtet hätten (Quintilian 1988: Buch X, 5, 1–4). Die Inanspruchnahme der Übersetzung in die Muttersprache zur Schulung der eigenen Ausdrucksfähigkeit (später auch zur Bereicherung der Zielsprache) sollte später zu einem Topos werden, der sich in zahlreichen Rhetoriken, Poetiken und Grammatiken findet (vgl. Albrecht 1998, Kap. 4.3). Leider ist diese frühe und über Jahrhunderte hindurch überlieferte Erkenntnis in der modernen Sprachdidaktik weitgehend verloren gegangen (vgl. Albrecht 2009: 884).

      2 Die Stellung der Übersetzung im Kreis der freien Künste

      Übersetzungstheoretische Traktate erscheinen nicht selten als Teile umfangreicherer Arbeiten, die eine der Disziplinen des Triviums im System der freien, d.h. eines freien Mannes würdigen (vgl. Moos 2009: 800), Künste behandeln. Der katalanische Humanist Juan Luis Vives veröffentlichte seine Abhandlung „Versiones seu interpretationes“, auf die zurückzukommen sein wird, als Schlusskapitel seiner Rhetorik De ratione dicendi (Vives 1993 [1532]). Johann Christoph Gottsched, einer der letzten der

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