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III-1, 97)

      Im Grunde beruft sich ­Nietzsche hier auf die Grundsätze der theoretischen bzw. ­logischen Kultur selbst, wenn er darauf hinweist, dass eine solche Kultur nicht vor ihren eigenen Konsequenzen zurückweichen kann, da „eine Kultur, die auf dem Prinzip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden, d. h. vor ihren Konsequenzen zurück zu fliehen.“ (GT III-1, 115)

      ­Nietzsche weist in diesem Zusammenhang übrigens auch darauf hin, dass die Reflexion auf das Wissen selbst bereits vor ihm dazu geführt habe, dessen Grenzen zu erkennen und damit eine Neubesinnung auf das ‚Tragische‘ einzuleiten. Er erwähnt namentlich und naheliegenderweise Kant, der „das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst [habe], um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche, an der Hand der Kausalität, sich anmaßt, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können.“ (GT III-1, 114) Gemeint ist natürlich Kants Kritik an einer Philosophie, die beanspruchte, mithilfe von rationaler Theologie, Psychologie und Kosmologie eine rein vernünftige und damit letztbegründete Aufklärung über Gott, den Menschen und die Welt geben können, und gemeint ist Kants Begrenzung des vernünftigen Wissens auf die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung, die zugleich die Möglichkeitsbedingungen der Gegenstände der Erfahrung sind. Mit dieser ‚Kritik der reinen Vernunft‘ sieht ­Nietzsche also bereits eine Erschütterung des „im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus.“ (GT III-1, 114)

      Diese Erschütterung muss aber schließlich auch weiter reichende Folgen für das Leben der Menschen haben, da gerade jener Optimismus des Wissens „wiederum der Untergrund unserer Kultur ist.“ (GT III-1, 114) Gerade damit soll eine Kultur eingeleitet sein, „welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal

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      ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesamtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht.“ (GT III-1, 114) Als ‚Weisheit‘ (im Unterschied zur Wissenschaft) bezeichnet ­Nietzsche hier eine Wissensform, die sich am ‚Gesamtbild‘ orientiert – also am Dionysischen zusammen mit dem Apollinischen, an den Individuen ebenso wie an der Individuierung, an den Gestalten ebenso wie an der Gestaltung (während für die Wissenschaft nur die Individuen und Gestalten in den Blick geraten).

      Eine solche neue Darstellung der Individuierung als Prozess und Geschehen im Wandel wäre also in einem gewissen Sinne die neue Form einer ‚tragischen‘ Kultur, und ­Nietzsche sieht die Erschütterung der Sicherheit des Wissens der Wissenschaft in folgender Situation: „Nachdem … die sokratische Kultur von zwei Seiten aus erschüttert ist … , einmal aus Furcht vor ihren eigenen Konsequenzen, die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven Zutrauen überzeugt ist.“ (GT III-1, 115)

      Man sollte nicht vergessen, dass ­Nietzsche sich hier an einer Diagnose seiner Gegenwart in Bezug auf das wissenschaftliche Weltbild versucht: wir schauen hier „auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umflutet,“ und gewahren „die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntnis in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umgeschlagen.“ (GT III-1, 97 –98) Es war für ­Nietzsche jedoch eine offene Frage, ob diesem Bedarf an Kunst in seiner Gegenwart genüge getan werden könne. Es stellte sich für ihn die Frage: „wird jenes ‚Umschlagen‘ zu immer neuen Konfigurationen des Genius und gerade des musiktreibenden ­Sokrates führen? Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden, oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt ‚die Gegenwart‘ nennt, in Fetzen zu reissen?“ (GT III-1, 98) Die Auseinandersetzung um den Geist seiner Gegenwart und Zukunft sah ­Nietzsche also zwischen „der unersättlichen optimistischen Erkenntnis“ – m. a. W.: der Wissensform der Wissenschaft – auf der einen Seite und „der tragischen Kunstbedürftigkeit“ auf der anderen Seite stattfinden (GT III-1, 98 –99).

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      Kants Reflexion auf die Wissensform der Wissenschaft war von der Frage geleitet, wie wir denken können, dass unser Wissen tatsächlich seinem Begriff entspricht, d. h. dass es wirklich so ist, wie wir es in Aussagen behaupten, und wir nicht nur unsere zeitlich zusammen auftretenden subjektiven Erlebnisse wiedergeben. Im Unterschied zu dieser Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines seinen Begriff erfüllenden Wissens konzentrierte sich ­Nietzsches Untersuchung des Wissens sehr bald auf die Angabe einer geschichtlichen Epoche und eines bestimmten geographischen Raumes, in der bzw. in dem diese bestimmte Form des Wissens ihren Anfang genommen hat. Darin liegt ein Anspruch auf ein historisches Verständnis, welcher die Geltungsgrundlage dessen, was wir heute als Wissenschaft kennen, radikal anders auffasst, als es dem wissen­schaftlichen Selbstverständnis in der Regel entspricht. Unsere Auffassung von der Wahrheitsfähigkeit der Wissenschaften geht diesem Verständnis zufolge nicht auf deren besonderes Verhältnis zur Welt an sich zurück, die sie besser und exakter in Aussagen zum Ausdruck bringen können, sondern auf ein geschichtliches Ereignis am Anfang der europäischen Denkgeschichte, und jene Auffassung lässt sich auch nicht durch jenes besondere Verhältnis zur Welt begründen, sondern nur aus der Wirklichkeit und Wirksamkeit der Folgen jenes Ereignisses.

      Die uns heute selbstverständliche Bedeutung der Wissensform der Wissenschaft geht nach ­Nietzsche also letztlich darauf zurück, dass „der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer größer werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat.“ Damit verbunden ist der Gedanke, dass dieser Einfluss „zur Neuschaffung der Kunst – und zwar der Kunst im bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne – immer wieder nötigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt.“ (GT III-1, 93) Die Macht jener Wissensform ist also zum einen geschichtlich begründet, zum anderen hängt sie ab von der Existenz einer ‚Kunst‘ – allerdings sollte man dabei nicht an bestimmte Kunstformen und vor allem nicht an bestimmte Stilrichtungen denken, wie sie kunstgeschichtlich beschrieben werden. Gemeint ist in erster Linie ein Phänomen, das ­Nietzsche als ‚Kunst‘ bezeichnet, weil es als eine ‚Darstellungsfähigkeit‘ und als ein Vermögen des Bildens und Gestaltens sowohl der Ausbildung der Wissenschaft als auch der Entwicklung der Kunst zugrunde liegt. Dieser Zusammenhang zwischen dem das logische Denken und Begründen fundierenden Einfluss von Sokrates/Platon und der Kunst wird ­Nietzsche weiter beschäftigen. Sein Denken ist auch deshalb eine vor allem ‚ästhetische‘ Philosophie, weil sein zentrales Thema selbst fundamental ‚ästhetisch‘ verfasst ist. Das Denken, welches in dieser Philosophie

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      zum Gegenstand der Kritik wird, ist selbst ein ‚ästhetisches‘ Denken und wird deshalb angemessen nur in einer ‚ästhetischen‘ Philosophie zum Thema, die sich einer ‚begründenden‘ und in diesem Sinne ‚rationalen‘ entgegensetzt.

      In ­Nietzsches Reflexion auf das Wissen der Wissenschaft steht also an zentraler Stelle der Gedanke, „dass die Griechen unsere und jegliche Kultur als Wagenlenker in den Händen haben.“ (GT III-1, 94) Diese Bedeutung geht vor allem darauf zurück, dass dort die Bedeutung der Theorie und des Theoretischen grundgelegt wurde – und dies vor allem bei Sokrates, und ­Nietzsche schlägt vor, „in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen.“ (GT III-1, 94) Damit ist nicht das gemeint, was wir heute so nennen mögen, wenn wir uns jemanden vorstellen, der von Handlungsfurcht gelähmt sich in theoretische Erwägungen über das Leben flüchtet, statt es zu leben. ­Nietzsche meint hier kein in unserem wissenschaftlichen Sinne beschreibbares Bild einer psychologischen Störung. Die einer solchen Beschreibung zugrunde liegende Unterscheidung fiele

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