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und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind.“ (GT III-1, 143)

      Dieser Gedanke liegt zunächst schon deshalb nahe, weil mit der Tragödie eine Verständnisform des Lebens vom ‚Mythus‘ her verbunden ist, d. h. von den ‚Geschichten‘ her, die nicht auf eine begründende oder logische Weise, sondern mithilfe von Erzählungen über besonders bedeutende Ereignisse die Zusammenhänge in der Welt und der Menschen mit der Welt und untereinander verständlich machen. Die Tragödie verlor ihre Bedeutung aber dann, als der ‚logische Geist‘ des Begründens und Erklärens mithilfe – mehr oder weniger – vernünftiger Argumente vorherrschend wurde, nach ­Nietzsche also mit dem sokratisch-platonischen Geist. Offensichtlich kann es die fundamentalen Formen des Zusammenlebens und der Austauschbeziehungen zwischen Menschen in einer Gesellschaft nicht unberührt lassen, wenn bei Problemen im Zusammenleben die Berufung auf die Wahrheit von sinngebenden ‚Geschichten‘ durch den Bezug auf prinzipiell auf vernünftige Weise begründungspflichtige Geltungsansprüche ersetzt wird. ­Nietzsche führt diese Bedeutung seiner Tragödientheorie für Gesellschaft und Politik so aus:

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„Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwillkürlich genötigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich ebenso der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden.“ (GT III-1, 143 –144)

      Allerdings fährt ­Nietzsche dann mit einer moralischen Einschätzung dieses Vorgangs fort: „Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – wert, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Überzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegenteil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern.“ (GT III-1, 144) Dass es sich bei solchen und ähnlichen Bewertungen allerdings tatsächlich um ethische Urteile mit einem Anspruch auf vernünftige Begründbarkeit und Ausweisung handelt, sollte man nicht zu schnell als sicher annehmen. Der Ausdruck ‚ist ein Volk … wert‘ ist möglicherweise nur eine Beschreibung für die Erfüllung von Durchsetzungsbedingungen in einer Umwelt, die durch knappe Güter und konkurrierende Ansprüche geprägt ist. In seiner späteren Philosophie wird ­Nietzsche den Ausdruck ‚Wert‘ sehr häufig so verwenden und der Beschreibung von Strukturen einer solchen Erfüllung von Durchsetzungsbedingungen an vielen Stellen dadurch eine ethisch aufgeladene Färbung verleihen. Man könnte versuchen, diesen Stil als eine Erläuterung für eine der zentralen Behauptungen in ­Nietzsches Kritik der Ethik aufzufassen, nämlich für den Zusammenhang von Ethik und Willen zur Macht.

      Man sollte ­Nietzsches ‚Werturteile‘ deshalb hier wie an vielen anderen Stellen auf sich beruhen lassen, um das Behauptete deutlicher zu verstehen. In erster Linie werden in dem wiedergegebenen Zitat zwei fundamentale Formen des Selbstverständnisses voneinander unterschieden, die ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit implizieren. Ein Selbstverständnis von Mythen her stellt einen Menschen oder eine Gesellschaft bzw. einen Staat aus der Abfolge der Zeit heraus – der Mythos als die sinngebende Geschichte gilt, weil er gilt und weil er immer gegolten hat. Solange er seine Geltung behält, kann man nicht fragen, ob er denn die ‚richtigen‘ Anleitungen gibt, denn die Bedeutung von ‚richtig‘ wird eben durch den Mythos bestimmt, und man kann auch bei keinem Ereignis fragen, ob für seine Deutung der Mythos zuständig sei, oder ob vielleicht eine andere Interpretation dieses Ereignisses sinnvoller wäre, denn was

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      ‚sinnvoll‘ heißen kann, bestimmt eben der Mythos. Er formt deshalb in einem radikalen Sinne eine ‚geschlossene Gesellschaft‘, in der jene ‚Geschichten‘ den Referenzrahmen für alles darstellen, was von Menschen in ihrem Zusammenleben gedacht und getan werden kann.

      Ganz anders verhält es sich, wenn für das Zusammenleben in der Gesellschaft und im Staat das ‚historische‘ Begreifen und damit die Abfolge des Lebens in der Zeit zum Referenzmuster wird – ebenso wie dies für einzelne Menschen gilt. Nun wird nicht mehr die Unveränderlichkeit des Ewigen die Referenz für das Verstehen von Ereignissen, sondern es wird eine Unterscheidung gemacht zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, und die letztere wird von der ersteren her verstanden. Nun gibt es Erklärungen, mithilfe derer die Gegenwart mit der Vergangenheit verbunden wird, und zwar so, dass das, was im Jetzt geschieht, dadurch verständlich wird, weil im ‚es war‘ etwas anderes geschehen war.

      Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass nach ­Nietzsche für den sokratisch-­platonischen Geist und damit für die Wissensform der Wissenschaft an zentraler Stelle der Gedanke der Kausalität bedeutsam wird. Dieser Gedanke erscheint hier in der Form der historischen Kausalität: weil in der Vergangenheit A (und nicht B oder C) geschehen ist, deshalb ereignet sich in der Gegenwart X (und nicht Y oder Z). Kausalität aber ist eine Form, mit der wir verschiedene Ereignisse auf eine sehr abstrakte – wir könnten auch sagen: gedankenlastige – Weise miteinander verbinden. Sie gibt uns nicht an, dass beim Auftreten von A sich in der Folge stets X ereignen muss – es könnte sein, dass A dieses Mal unter ganz anderen Randbedingungen stattfand, weshalb keineswegs X folgt, sondern Z oder gar aus einer ganz anderen Klasse das Ereignis β. Wer sich historisch versteht, muss also immer wieder neue Erklärungen finden und stellt sich auch auf diese Weise in den Ablauf der Zeit, ob es sich nun um eine Person oder eine Gesellschaft bzw. einen Staat handelt.

      Mit dieser Erklärungsweise kommen wir zurück auf ­Nietzsches Diagnose seiner Gegenwart in Bezug auf Gesellschaft und Staat. Jener sich historisch verstehende und damit sich vernünftig erklärende und begründende Staat ist nach seiner Vorstellung als Ergebnis des ‚Sokratismus‘ charakterisiert durch „den abstrakten, ohne Mythen geleiteten Menschen, die abstrakte Erziehung, die abstrakte Sitte, das abstrakte Recht, den abstrakten Staat.“ (GT III-1, 141) ‚Abstrakt‘ ist hier gleichbedeutend mit ‚ohne Grundlage in einem Mythos‘ bzw. mit ‚sokratisch-platonisch‘ bzw. mit der Wissensform der Wissenschaft. Es ist die Abstraktheit eines Begriffes wie ‚Kausalität‘, mit dem wir einen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen herstellen, der in der Wirklichkeit nur unter einem Absehen – einer ‚Ab-straktion‘ – von Randbedingungen und weiter zurückliegenden Ursachen gilt. Man kann versuchen, den Zweiten Weltkrieg durch die

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      Politik der Westmächte nach dem Ersten Weltkrieg zu erklären, aber diese Kausalität ist wenig aussagekräftig, wenn man nicht die Randbedingungen in einer besonderen politischen Entwicklung in der Weimarer Republik berücksichtigt, die wiederum ältere politische Traditionslinien zur Erklärung verlangen, so dass die Erklärung dafür, dass gerade in Deutschland 1933 eine Verbrecherbande an die Regierung gelangen konnte, weitgehend von der Entscheidung darüber abhängt, was als ­Ursachen und was als Randbedingungen aufgefasst werden soll.

      Darüber hinaus schließt ­Nietzsche mit dem Begriff des ‚abstrakten Staates‘ natürlich auch an Hegels Ausdruck vom ‚Not- und Verstandesstaat‘ an. Hegel hatte damit den Staat gemeint, der sich durch die materiellen Interessen der Bürger rechtfertigt und so existiert – zu welchen materiellen Interessen allerdings auch Sicherheitserwägungen wie Rechtssicherheit gehören können. Es ist der Staat, der ohne Begründung in einer ‚Sitte‘ besteht, also in unbezweifelbaren und unmittelbar geltenden Normen, die sich durch ihre Herkunft legitimieren, d. h. die letztlich gelten, weil sie immer gegolten haben. Bei ­Nietzsche ist nun der Staat ohne Mythos gemeint, in dem die Beziehungen zwischen den Bürgern grundsätzlich durch ein Wissen geregelt sein sollen, das sich nicht durch den Bezug auf sinnstiftende ‚Geschichten‘ rechtfertigt, sondern etwa durch Regeln, die in Abstimmungen festgesetzt wurden, oder durch die Pflicht, sich in rational geleiteten Diskursprozessen ausweisen zu müssen.

      Wenn wir bei ­Nietzsche jedoch in solchen Passagen einen kritischen Unterton bemerken, so sollten

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