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Herkunft staatenbildender individuierter Begriffe und Gestalten nicht stattfinden kann, d. h. dessen Bürger sich nur von diesen Begriffen und Gestalten her verstehen, ohne dass ein Bewusstsein von deren Herkunft aus ästhetischen und damit künstlerischen Prozessen lebendig wäre, und in dem ein Recht gilt, das ohne eine solche Reflexionsmöglichkeit herrscht, und in dem das Erziehungssystem auf Grundsätzen beruht, die nur ihre möglicherweise sogar vernünftige Herkunft widerspiegeln, nicht aber das Entstehen eben dieser Vernunft aus ästhetisch-künstlerischen Ursprüngen. Man könnte auch sagen: es handelt sich nach ­Nietzsche um einen Staat der Vernunft, in dem die Vernunft nicht reflektiert auf ihre eigene Herkunft in einem künstlerisch-kreativen Gestalten und Bilden.

      Insofern ist ­Nietzsches Einschätzung des modernen Staates weit radikaler als es die Hegelsche war. Bei Hegel fehlte dem ‚Verstandesstaat‘ ein Fundament in einer selbst bereits individuierten Gestalt (also in einer Sittlichkeit), d. h. in einem zwar nicht vernünftig begründeten, aber doch genügend bestimmten Vorstellungszusammenhang über

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      das, was man tut und was nicht, was richtig ist und was falsch. Bei ­Nietzsche dagegen fehlt dem ‚abstrakten‘ Staat das Bewusstsein, dass alle Bestimmtheiten (Begriffe, Leitvorstellungen und Ideen), die in ihm das Zusammenleben der Menschen leiten, nicht eine Welt an sich widerspiegeln, sondern in einem ästhetisch-kreativ-künstlerischen Prozess entstanden sind, der nicht notwendig ist und nicht letztgültig vernünftig begründet werden kann. Ob daraus eine philosophische Kritik am modernen Staat abgeleitet und begründet werden kann, oder ob sich bei ­Nietzsche daraus nicht auch eine Fülle von Ressentiments ergeben, können wir an dieser Stelle offen lassen. Auf jeden Fall wird es keine Kritik mit dem Hinweis auf eine fehlende sittliche Grundlage sein können, und es wird keine an Vernunftforderungen orientierte Kritik des Politischen abgeleitet werden können. Man sollte dies im Auge behalten, wenn man ­Nietzsches spätere Äußerungen über konkrete staatliche Entwicklungen liest – von denen sich viele relativieren, wenn man sie auf der Grundlage eines genaueren Verständnisses von ­Nietzsches Philosophie auffasst.

      Wir haben am Anfang darauf hingewiesen, dass ­Nietzsche in diesem Buch unter dem merkwürdigen Titel „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ die Frage nach dem Wissen der Wissenschaft untersucht – nach jener Form des Wissens, die er sehr früh als Problem erkannt hatte. Jetzt können wir sehen, unter welcher Perspektive er diese Frage stellte. In seinem viel später geschriebenen ‚Versuch einer Selbstkritik‘ differenzierte er sie so aus:

      

„Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft – ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher – alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen – die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheimnisvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie?“ (GT III-1, 6 –7)

      Die Wissensform der Wissenschaft soll also unter der Perspektive ihrer Geschichte untersucht werden, also auf ihren Entstehungszusammenhang hin (wozu? – woher?), der offensichtlich sehr viel mit dem platonischen bzw. sokratischen Denken zu tun hat. Es wird also die Stellung zur Welt und zum Leben verhandelt, die wir unter dem

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      Vorzeichen der Wissenschaftlichkeit einnehmen. Diese Haltung ist auch moralisch geprägt, so dass die Frage nach dem Wissen, das als Wissenschaft auftritt, auch mithilfe einer ethischen Reflexion untersucht werden muss. Auf diese Weise soll die Beziehung zwischen Wissenschaft und Wahrheit näher aufgeklärt werden, die wir heute oft überhaupt nicht als ein problematisches Verhältnis auffassen, weil wir die beiden Begriffe von vornherein zu identifizieren bereit sind..

      In der Rückschau erschien ­Nietzsche sein frühes Werk als „ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten (…), voller psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde.“ (GT III-1, 7) Damit ist eine grundsätzliche Reflexion auf die Rezeptionsbedingungen seiner Philosophie – wie alles Denkens – angedeutet, die ­Nietzsches Schriften bis in die späten Werke hinein durchziehen wird. (Wir werden am Schluss in Zusammenhang mit dem ‚Zarathustra‘-Buch noch näher auf diese Reflexion eingehen.) Ein Buch für ‚Künstler‘ soll es deshalb sein, weil es gemeinsame Erfahrungen voraussetzt, die empfänglich für das Künstlerische machen (was nicht bedeuten soll, dass ­Nietzsches Leser die Kunst zu ihrem Beruf machen müssten, um sein Denken verstehen zu können). Aber es soll sich doch um ein „Buch für Eingeweihte“ handeln, „als ‚Musik‘ für Solche, die auf Musik getauft, die auf gemeinsame und seltne Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an verbunden sind.“ (GT III-1, 8)

      ­Nietzsche grenzt das Verfahren seiner Philosophie damit von einer Wissenschaftlichkeit ab, die in erster Linie auf dem beruht, was er selbst als „die Schicklichkeit des Beweisens“ bezeichnet (GT III-1, 8). Mit diesem Ausdruck der ‚Schicklichkeit‘, den man sich auch mit ‚Sitte‘ übersetzen könnte, schließt ­Nietzsche – vermutlich unbewusst – an Hegel an, der das wissenschaftliche Verfahren schon als ein in der Geschichte des Denkens entstandenes spezielles Begreifen der Welt erklärt hatte; und er weist bereits vor auf Wittgenstein, für den ein solches Beweisen viel später ein ‚Sprachspiel‘ darstellen wird, das auf der Grundlage und in Verbindung mit einer ‚Lebensform‘ gilt und darin auch seine Grenzen hat.

      Man kann aber – und man ist geneigt zu sagen: ‚leider‘ – nicht übersehen, dass bereits hier beim frühen ­Nietzsche auch ein Denken beginnt, das heute in der Regel mehr zur dunklen Seite von dessen (Denk-)Macht gerechnet wird, nämlich die Kritik an Demokratie, Utilitarismus und sozialem Ausgleich, sowie der moralisch getönte Lobpreis von Stärke, Macht und Gewalt in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit, obwohl an vielen Stellen doch nur eine Erklärung für die Veränderungen in der Stellung des Menschen zur Welt und die dazugehörigen Wissensformen gegeben wird. Teilweise sind solche Überlegungen noch sachorientiert, aber an anderen Stellen ist das ‚Ressentiment‘ deutlich zu erkennen – eine Haltung, die gerade ­Nietzsche

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      als eine Art moralischer Todsünde dargestellt hat. An dieser Stelle genüge dafür ein Beispiel. In seiner ‚Selbstkritik‘ zur ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ schrieb ­Nietzsche in Bezug auf die Entwicklung im griechischen Denken hin zu einer „Logisierung der Welt“ etwa in einer suggestiven Formulierung: „Wie? könnte vielleicht, allen ‚modernen Ideen‘ und Vorurteilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, – ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein?“ (GT III-1, 10 –11) Wie bei vielen ähnlichen Formulierungen lässt sich auch diese Stelle wertfrei lesen, aber wenn das ‚Ästhetische‘ berücksichtigt wird, dessen Bedeutung gerade ­Nietzsche herausgestellt hat, dann klingt sie doch anders – aber vielleicht will uns ­Nietzsche ja gerade auf diese ästhetische Grundlage des Verstehens hinweisen und führt uns deshalb mit Absicht in die Irre?

      Lassen wir diese Frage zunächst auf sich beruhen. Auf jeden Fall ist nach der Lektüre der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ deutlich, dass die Bedeutung der Kunst bzw. des Schöpferischen generell für ­Nietzsches Denken kaum unterschätzt werden kann – und dies gilt keineswegs nur für die Tragödie, die Musik oder überhaupt das Phänomen, das wir heute in den verschiedenen Kunstformen antreffen, sondern gemeint ist vor allem ‚Kunst‘ in einem weiteren Sinn. An mehreren Stellen erklärt uns ­Nietzsche darüber hinaus, „dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint“ (GT III-1, 148), und hier handelt es sich wohl um einen seiner meistzitierten Sätze. Möglicherweise klingt dies für viele Leser so, als werde damit gesagt, es müsse alles

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