Скачать книгу

das Kunstwerk der griechischen Tragödie zugrunde gegangen sein (GT III-1, 79).

      Natürlich könnten wir für ‚das Sokratische‘ auch schon ‚das Platonische‘ einsetzen, schließlich kennen wir die Lehren des Sokrates fast nur durch Platon und sie wirkten nur über die platonischen Dialoge und deren Rezeption. ­Nietzsche fasst den Beginn der Bedeutung des sokratischen Denkens jedoch in erster Linie als ein ästhetisches Phänomen auf. Zunächst geht es also um das

      

„Wesen des ästhetischen Sokratismus …, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: ‚alles muss verständig sein, um schön zu sein‘; als Parallelsatz zu dem sokratischen ‚nur der Wissende ist tugendhaft‘“. (GT III-1, 81)

      Als paradigmatischer Künstler für diese sokratisch-platonische Verfallsform der Tragödie erscheint ­Nietzsche Euripides. Diese Veränderung zeigt sich in der neuen Bedeutung der verschiedenen Elemente im Zusammenhang der Tragödie. Waren zuvor die „rhetorisch-lyrischen Szenen“ und damit das Pathos und nicht die Handlung wichtig (GT III-1, 81), so werden nun Handlung, Bewusstwerden und die Gedanken wichtig. ­Nietzsche fasste dies pointiert so zusammen, dass Euripides sein Theater an zweien seiner Zuschauer ausrichtete: an ihm selbst als Denker und nicht als Dichter, und an Sokrates (GT III-1, 76, 79).

      Sokrates – und damit bald Platon – erscheint nun als der Gegner des Dionysos, der Apollo in diesem Sinne natürlich nicht war, denn zumindest in der Tragödie verschwand das Dionysische keineswegs hinter dem Apollinischen. Für ­Nietzsches ganze Philosophie ist es nun sehr wichtig zu sehen, wie sich dieser neue Gegensatz von dem älteren und anders gearteten zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen unterscheidet. Dazu ist es nützlich, zunächst zu beachten, dass ­Nietzsche das Prinzip des ästhetischen Sokratismus vor allem in der „neuen und unerhörten Hochschätzung des Wissens und der Einsicht“ sah (GT III-1, 85). Es liegt nahe, dass auf dieser Grundlage in der Tragödie die Handlung und der Dialog wichtiger wurden als die musikalische Vision des ­Chores. Man könnte also allgemein ­Nietzsches Auffassung so zusammenfassen, dass in der Tragödie nun die Gedanken wichtig werden, die ein Wissen darstellen. Das kann etwa ein Wissen über die Welt und den Menschen sein oder auch eine Lehre, die sich aus der Handlung und den Dialogen ergeben soll. Warum ist das, was ­Nietzsche als ‚Sokratismus‘ bezeichnet, aber die „fragwürdigste Erscheinung des Altertums“ (GT III-1, 86)? Um eine Antwort zu finden, sollten wir vor allem den Ausdruck ‚fragwürdigst‘ ernst nehmen und d. h. nicht einfach in einem pejorativen Sinne auffassen.

      <–41|

      ‚Fragwürdig‘ in diesem Sinne ist jene ‚Erscheinung‘ zunächst dadurch, dass sich nun das bewusste Erkennen der „instinktiven Weisheit“ entgegensetzt und dadurch die ursprüngliche Balance zwischen Instinkt und Logik gestört wird:

      

„Die instinktive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd entgegenzutreten. Während doch bei allen produktiven Menschen der Instinkt gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinkt zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre Monstrosität per defectum! … so dass Sokrates als der spezifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre.“ (GT III-1, 86)

      Die logische Natur ist hier nach ­Nietzsche selbst zum Instinkt geworden. Das Problem dabei ist vor allem, dass diese logische Natur sich selbst nicht mehr als solche erkennen und auffassen kann – das Problem ist also vor allem die instinktive Gewalt dieser logischen Natur; ­Nietzsche spricht von einer „Naturgewalt“, die der sokratisch-platonischen Reflexion gerade entgeht: „Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivität und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den platonischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss.“ (GT III-1, 87)

      Wir hatten gesehen, dass ­Nietzsche in der ‚klassischen‘ Tragödie und deren musikalischem Ursprung eine Harmonie von dionysischem und apollinischem Prinzip walten sah, welche es ermöglichte, das Dionysische im apollinisch-individuierenden Gestalten und Erscheinen selbst noch erscheinen zu lassen, obwohl es in diesem Geschehen doch eigentlich als solches untergehen muss, um das Apollinische entstehen zu lassen. In der nicht in erster Linie auf Handlung und Dialog beruhenden klassischen Tragödie gelang es jedoch, so ­Nietzsche, dieses Geschehen des Bildens und Gestaltens, d. h. der individuierenden Artikulation, selbst noch im Kunstwerk zur Erscheinung zu bringen. Eben dies misslingt nun in der neueren Tragödie durch deren Orientierung an Dialog und Handlung, die beide nun durch den ‚Instinkt‘ der logischen Natur verabsolutiert werden. Sie werden nicht mehr durch die ‚Vision‘ der Musik zu einem Teil des Geschehens, in dem sich das Bilden, Gestalten, Ordnen und Individuieren selbst darstellt. Deshalb wird das Gebildete, Gestaltete, Geordnete und Individuierte nun zum Wesen der Tragödie, die den Prozess des Entstehens nicht mehr zum Ausdruck bringen kann.

      Weil die logische Natur zu einem ‚Instinkt‘ geworden ist, kann sie nicht widerlegt werden – d. h. sie wendet sich als solcher nicht auf sich zurück (GT III-1, 87). ­Nietzsche

      <–42|

      spricht deshalb auch von dem „großen Zyklopenauge des Sokrates“, das sich auf die Tragödie gewandt habe (Zyklopen haben bekanntlich nur ein Auge) (GT III-1, 88). Wir können diese Auffassung aber bereits jetzt in einem etwas allgemeineren Zusammenhang sehen. Natürlich geht es nicht nur um die Tragödie. Jene fehlende Selbstreflexion der sokratisch-platonischen Haltung einer Betonung des Logischen gilt nach ­Nietzsche auch für die Form des Wissens, die mit der platonischen Philosophie begann und in der Gestalt der Wissenschaft heute noch in weitem Ausmaß das bestimmt, was Wissen heißen soll. Aus der Erörterung von ­Nietzsches Auffassung über die besondere Struktur der dionysisch-apollinischen ‚klassischen‘ Tragödie ist jedoch auch bereits deutlich geworden, dass seine Kritik nicht auf eine Wiederherstellung des Dionysischen in der Kunst oder in der Welt abzielen kann.

      Das Dionysische ‚gibt‘ es nicht in dem Sinn, wie es Siamkatzen oder Stahlwerke in der Welt gibt, und auch nicht so, wie es Klaviersonaten, Wissenschaftsparadigmata oder ewige Liebe gibt. Eigentlich ‚gibt‘ es das Dionysische überhaupt nicht – ebenso wenig wie es das Apollinische ‚gibt‘. Aber das apollinisch-dionysische Bilden, Gestalten und Individuieren kann im Gestalteten, Gebildeten und Individuierten selbst zum Ausdruck kommen – oder auch ihn ihm verschwinden, wenn nur noch Gestalten, Bilder und Individuen erscheinen, in denen der Prozess ihres Entstehens verschwunden ist. ­Nietzsche kann also nach den Grundsätzen seiner eigenen Philosophie nicht nach einer Wiederherstellung des Dionysischen streben, sondern nur nach einer Restitution eines Zustandes, in welchem jener Prozess des Artikulierens so erhalten ist, dass er nicht hinter der logischen Natur und damit hinter dem Artikulierten verschwindet.

      Auch wenn das logische Denken sich nicht als logisches Denken und damit in seiner Besonderheit als individuierte Gestalt auffassen kann, so gibt es doch schon am Anfang dieses Denkens einen Ansatz, an dem sich die ‚Musik‘ im Hintergrund des individuierten Gestaltens zur Geltung bringt. Mit dieser ‚Musik‘ meldet sich das Dionysische und d. h. der Prozess des Gestaltens und Bildens selbst. ­Nietzsche sah dieses Geschehen in der dialogischen Form der Darstellung der platonischen Philosophie repräsentiert, welche nach dieser Auffassung nicht zufällig in solcher Form überliefert wurde. Man könnte also pointiert sagen, dass die Dialogform die ‚Musik‘ in Platons Philosophie sei und gerade deshalb nicht eine äußerliche Form, sondern die Gestalt, in der sich in dieser Philosophie die Dualität von Gestaltung und Gestalt, von Bildung und Bild, von Individuierung und individuellem Begriff bzw. Gedanken zur Geltung bringt und darstellt. Platon hat aus „voller künstlerischer Notwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist.“ (GT III-1, 89) Der platonische Dialog erscheint danach als Kunstform, die sich dem Inhalt nicht neutral anpasst, sondern selbst in einem Verhältnis zum Inhalt steht.

      <–43|

Скачать книгу