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läuft neben der ästhetischen Notwendigkeit der Schönheit die Forderung des ‚Erkenne dich selbst‘ und des ‚Nicht zu viel!‘ her.“ (GT III-1, 36)

      Das Maß des Menschlichen ist demnach das Ergebnis eines Prozesses, in dem das Individuelle entsteht, indem Begrenzung und Gestaltbilden geschieht. Auch das ‚Menschliche‘ ist nicht vorhanden, sondern entsteht in prinzipiell künstlerischen Prozessen, also aus der Verbindung des Dionysischen und des Apollinischen, in der Form, Begrenzung und damit Bestimmtheit geschaffen werden.

      Dieses individuierende Begrenzen und Bilden wird nun allerdings auch als ‚Schein‘ und ‚Traum‘ bezeichnet. Also muss es etwas anderes geben, was dieses Phänomen infrage stellt und bis zu einem gewissen Grade aufhebt – wäre man nicht zumindest

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      rudimentär mit dem bekannt, was wir als ‚Realität‘ bezeichnen können, so könnte man nicht davon Schein und Traum unterscheiden. Wir sollten hier schon berücksichtigen, dass Nietzsche damit nicht das andere Prinzip als die alleinige Wahrheit auszeichnen will, wie der Wachzustand etwa die Wahrheit gegenüber dem Traum wäre. Es handelt sich um Analogien, und man sollte die Analogiebildung nie in dem Sinne zu weit treiben, dass sie selbst in ihrer Individualität aufgehoben und mit dem, wofür sie eine Analogie darstellt, identifiziert wird. Auch mit der Bezeichnung ‚Rausch‘ für das Dionysische wird eine solche Analogie versucht. zu der die meist von Lust begleitete Aufhebung von Grenzen gehört – sei es in einer allgemeinen Verbrüderung von Trinkgenossen oder im Verschwimmen der visuellen Begrenzungen der Dinge oder im Undeutlichwerden von akustischen Eindrücken oder der Stimme. Nietzsche spricht hier von einer ‚wonnevollen Entzückung‘, „die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt.“ (GT III-1, 24)

      Das Zerbrechen des Prinzips der Individuierung ist also eine zentrale Bedeutung dessen, was Nietzsche als das Dionysische bezeichnet. An der gleichen Stelle weist er jedoch noch auf einen anderen Aspekt, der besonders unter der Perspektive der ­Reflexion auf Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit wichtig ist. Er spricht hier von dem ‚Grausen‘, „welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint.“ (GT III-1, 24) Offensichtlich ist jener Rausch in Nietzsches Analogie nicht nur und nicht ausschließlich lustvoll, sondern auch grauenerregend, und dies geht gerade darauf zurück, dass uns der Gedanke der Kausalität in dieser Situation keinen sicheren Halt mehr bietet. Dass Nietzsche hier – unvermittelt, wie es scheinen könnte – vom ‚Satz vom Grund‘ und damit vom Prinzip der Kausalität spricht, lässt sich leicht mit Bezug auf Kants Philosophie verstehen. Dass ‚Kausalität‘ ein Gedanke ist, war bereits von Kant in seiner Ausarbeitung der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung und damit einer Welt von Objekten unabhängig von uns gedacht worden. Der Begriff der Kausalität gehört nach dieser Philosophie zu jenen Gedanken, die Kant als ‚reine Verstandesformen‘ bezeichnete, weil wir mit ihrer Hilfe die Welt in Urteilen bestimmen und damit überhaupt eine Welt von Objekten von uns als Subjekten unterscheiden können.

      Eine solche Unterscheidung können wir in der Kommunikation zwischen Menschen nur so vornehmen, dass wir von Sätzen behaupten, dass sie gelten, d. h. etwas über die Welt aussagen – und nicht nur über den Sprecher und sein Bewusstsein selbst; sie sollen also unabhängig von ihm gelten. Das ist aber nur möglich, wenn sie so bestimmt sind, dass andere Menschen sie auf die Welt beziehen können und dadurch

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      entscheiden können, ob es sich tatsächlich so verhält, wie mit dem betreffenden Satz behauptet wird. Erst dann ist etwas mit einem Satz ausgesagt, was auch ein anderer Sprecher so auffassen kann, wie dies der erste berichtet. Wir können ihn dann in der Kommunikation überprüfen und entscheiden, ob es wirklich so ist, d. h. ob er sich tatsächlich auf die objektive Welt bezieht oder vielleicht doch nicht. Kants Behauptung war es, dass wir genau für diesen Objektbezug von Sätzen den Begriff der Kausalität benötigen. Das heißt nicht, dass wir in jedem sinnvollen Satz sagen müssen, warum etwas so und nicht anders ist. Aber es muss das Verhältnis einzelner Eigenschaften zum Objekt angegeben werden, und zwar so, dass deutlich wird, es solle sich nicht nur für den Wahrnehmenden so verhalten, sondern dies solle ‚objektiv‘ gelten. Dafür müssen wir zumindest annehmen können, die verschiedenen Wahrnehmungen vom Objekt haben als ihre gemeinsame Ursache eben dieses Objekt – und nicht etwa unser Wahrnehmungsvermögen selbst. Wenn wir etwas von einem Objekt behaupten, so setzen wir deshalb den Gedanken der Kausalität als gültig voraus.

      Wenn wir uns von Kants Überlegungen nun etwas lösen, so können wir auch sagen, dass die Vorstellung, alles was geschieht, habe eine Ursache, aufgrund derer es geschieht, uns die Welt verständlich und erklärbar macht. Es ist leicht zu sehen, dass der Grundsatz der Kausalität von jener Individuierung im begrenzenden Bilden abhängig ist, den wir schon als wichtigen Zug in Nietzsches apollinischen Prinzip erkannt haben. Ein Verhältnis von Ursache und Wirkung können wir nur erkennen, wenn wir beide Größen so individuieren können, dass wir genau wissen, um was es sich dabei handelt, und wenn wir zwischen beiden eine Beziehung finden, welche uns eindeutig angibt, an welcher Position der Kausalkette die eine und an welcher die andere steht. Wir könnten noch hinzufügen, dass damit auch eine eindeutige Individuierung in der Zeitfolge bestimmt ist, da die Ursache vor der Folge stehen muss (jedenfalls wenn wir uns auf die Grundlagen der klassischen Physik beschränken). Mit dem Prinzip der Individuierung wird demnach auch das Prinzip der Kausalität aufgehoben. Der Name des Gottes Dionysos bezeichnet in Nietzsches Denken also einen Zustand, in dem die Kausalität als Grundlage des Erklärens aus einem Grund ebenso außer Kraft gesetzt ist wie die bestimmte Identität der Dinge, der Begriffe und der Menschen. Genau deshalb spricht Nietzsche von einem ‚Grausen‘, wenn wir plötzlich in eine Situation kommen, in der der Satz vom Grund, demzufolge alles, was geschieht, eine Ursache hat und nichts geschieht ohne Ursache, ungültig zu sein scheint.

      In einem solchen Zustand lösen sich die Begriffe ebenso auf wie die Dinge. Wir können demnach unter der alleinigen Geltung des dionysischen Prinzips auch nicht mehr von anderen Menschen als Urheber von Handlungen sprechen, d. h. wir können auch keine soziale Welt als eine Struktur von aufeinander bezogenen Handlungen mehr

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      erkennen. Nietzsche formuliert dies in seinem bisweilen etwas blumigen Tonfall so: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“ (GT III-1, 25) Hier wird über das ‚Verschwimmen‘ der Unterscheidung zwischen Menschen hinaus auch noch eine ‚Versöhnung‘ zwischen Mensch und Natur angesprochen. Natürlich sollten wir dabei nicht an Natur im Sinne einer zu schützenden Umwelt denken. Gemeint ist die Welt der Objekte, die sich, würde nur das dionysische Prinzip gelten, nicht von den Menschen unterscheiden könnte, ebenso wie sich Menschen in diesem Bezug nicht voneinander differenziert auffassen könnten. Erst das apollinische Prinzip schließt jene Unterscheidung zwischen Mensch und Objektwelt auf, die Kant mithilfe der reinen Verstandesbegriffe (wie etwa Kausalität) gedacht hatte. Ohne die Identifizierung von Objekten und von ihnen unterschiedener Menschen ‚verschwimmt‘ offensichtlich aber auch die Zuordnung von Objekten zu Menschen und damit wird das Erkennen von Veränderungen als Handlungen unmöglich.

      Wir hatten eingangs als das zentrale Problem, welches das jetzt thematische Werk stellt, das Verhältnis zwischen einer Reflexion auf das Wissen der Wissenschaft und einer Untersuchung des Ursprungs der Tragödie aus dem Geiste der Musik bezeichnet. Eine erste Antwort können wir nun aus der Charakterisierung des dionysischen Prinzips entnehmen. Nietzsche schreibt hier: „Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.“ (GT III-1, 26) Offensichtlich hat nach dieser Formulierung die Auflösung des apollinischen Prinzips der Individuierung, der Begrenzung und des Gestaltbildens etwas mit der Musik in der Form von Singen und Tanzen zu tun. Darin sieht Nietzsche eine Auflösung

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