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Schritt für ein ‚Leichtmachen‘ Nietzsches als eines philosophischen Autors also darin, ihn ‚schwer‘ zu machen in dem Sinne, dass wir seine scheinbar allzu leicht verständlichen Texte auf Anschlussmöglichkeiten für die Philosophie von Platon über Kant bis hin zu Wittgenstein unter­suchen. Die Rezeption der letzten Jahrzehnte hat bereits gezeigt, dass das möglich ist. Es ist sogar so gut möglich, dass sich daraus erstaunliche Aufschlüsse über die Problemlage einer Philosophie ergeben, welche die Reflexion auf das Wissen und das Erkennen so weit treiben will, dass wichtige denkgeschichtliche Grundlagen dabei auf eine radikale Weise infrage gestellt werden. Die weitere Entwicklung des philosophischen Denkens hat einen Horizont geschaffen, in dem sogar eine neue Perspektive auf Nietzsche als einen der zentralen Denker am Beginn des Entstehens dieses Horizontes möglich wurde. Nietzsche hatte dies übrigens selbst

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      Nietzsche ‚schwer‘ und dadurch leicht zu machen heißt aber natürlich nicht, ihn als einen ‚Philosophen der Schwere‘ aufzufassen. Gerade das Gegenteil muss der Fall sein bei jemandem, der sein Denken an einer Stelle so zusammenfasste: „Und wenn Das mein A und O ist, dass alles Schwere leicht, aller Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde: und wahrlich, das ist mein A und O!“ (Z VI-1, 286) An anderer Stelle drückte er sich so aus: „Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen; zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen.“ (M V-1, 333) Wir werden vor allem in Zusammenhang mit dem ‚Zarathustra‘-Buch noch näher auf die Bedeutung solcher Wendungen gegen das ‚Schwere‘ stoßen.

      Wie lässt sich Nietzsche also auf die richtige Weise schwer und leicht machen? Es wird sinnvoll sein, den Weg dieses Buches kurz zu skizzieren, um damit eine gewisse Gebrauchsanleitung zu geben. Ziel dieses Leichtmachens muss es offenbar sein, dem Leser solche Anschlussmöglichkeiten – wenn man will: ‚Vor-Urteile‘ – an die Hand zu geben, mithilfe derer er Nietzsches Texte auf einem philosophischen Niveau lesen kann, ohne sich durch die vielen allzu einfachen Stellen beirren zu lassen, die eine entsprechend vereinfachte Rezeption nahelegen könnten.

      Das Buch beginnt (1.) mit einer Exposition derjenigen philosophischen Themen, die in Nietzsches Denken wichtig wurden. Nietzsche ist einer der wenigen Autoren, die in einer einzigen frühen Schrift fast alles vorgestellt haben, womit sie sich weiter beschäftigen wollten. Bei ihm ist dies die Schrift ‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘, wobei man sich durch den merkwürdigen Titel nicht verwirren lassen sollte. Wir werden deshalb eine Interpretation dieser Schrift verwenden, um Nietzsches Themen zur Exposition zu bringen. Mit den meisten werden wir uns danach ohne Beschränkung auf ein einziges Werk weiter beschäftigen, mit einigen nicht, von denen man aber wenigstens gehört haben sollte.

      Bekanntlich hat sich die Philosophie seit ihren griechischen Anfängen mit dem beschäftigt, was wir tun sollen und was wir wissen können. Wir folgen nach der Exposition genau diesem Schema und versuchen zunächst einen philosophischen Zugang

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      zu dem zu gewinnen, was Nietzsche für die Ethik bedeutet (2.). In Wahrheit sind wir allerdings damit schon beim Erkennen, was bald deutlich werden wird – deshalb ist dieses Kapitel auch überschrieben mit ‚Die Moral des Erkennens‘. Explizit wird ­Nietzsches Philosophie des Wissens dann im nächsten Kapitel (3.) zum Thema, wo es um den ‚Glauben des Erkennens‘ gehen soll. Diese Thematik führt am Schluss auf die Frage nach dem, was man – wenn überhaupt – als so etwas wie Nietzsches ‚positive‘ Philosophie bezeichnen könnte, also jenseits der umfassenden Kritik an den Grundlagen des abendländischen Denkens. Hier zeigt sich, wie intensiv Nietzsche über sein eigenes Philosophieren und dessen Bedingungen reflektiert hat.

      Dieses Kapitel wird abgeschlossen mit einer Interpretation eines derjenigen Texte, die schon auf dem Sprung in eine mehr oder weniger literarische Darstellungsform stehen. Deshalb kommen wir eigentlich durch den Gang der Erörterung selbst auf dasjenige Werk, das Nietzsche ganz bewusst und weitgehend als Literatur und nicht als philosophische Erörterung gestaltet hat – d. h. zu ‚Also sprach Zarathustra‘. Wir werden dieses Werk abschließend an exemplarischen und wichtigen Stellen interpretieren (4.). Dabei werden die zentralen Themen aus Nietzsches Denken in einer neuen Einkleidung wieder auftauchen, aber es wird sich auch zeigen, dass dieses Buch selbst ein zentrales Thema hat, das sich wiederum aus Nietzsches Philosophie notwendig als Problem ergibt: die Frage der Vermittlung seines Denkens.

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      1 Das Problem des Erkennens: ‚Die Geburt der Tragödie‘

      1.1 Kritische Philosophie der Wissenschaft

      Die Grundpositionen seiner Philosophie hat Nietzsche schon bemerkenswert früh festgelegt. Hier ist eine Schrift von geringem Umfang wichtig, die den merkwürdigen Titel trägt „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Natürlich hat Nietzsche später sein Denken umgebaut, verfeinert, expliziert, ergänzt – aber doch nie in den zentralen Bereichen in eine gänzlich andere Richtung gelenkt. Man sollte sich darüber nicht durch jene seltsame Überschrift täuschen lassen. Es geht in dieser Schrift in der Tat auch um die Tragödie und um den ‚Geist der Musik‘, aber damit sind nicht im engeren Sinne literaturhistorische oder musiktheoretische Themen gemeint. Im Grunde verbirgt sich in dieser Thematik ein – oder vielleicht das – zentrale philosophische Problem, das Kant so formuliert hatte: ‚Was können wir wissen?‘. In der Gegenwart stimmen die meisten Menschen der Auffassung zu, dass das Wissen Sache der Wissenschaft ist. Nietzsche hatte diese Gleichsetzung noch nicht ganz vor Augen. Zwar war der Begriff ‚Wissenschaft‘ auch im 19. Jahrhundert und zuvor in Gebrauch, aber er wurde noch nicht eingeschränkt auf die Naturwissenschaft verwendet – bzw. auf die Wissenschaft, die nach dem Modell der Erkenntnisgewinnung arbeitet, das für die modernen Naturwissenschaften und hier wiederum für die Physik leitend wurde.

      ‚Wissenschaft‘ war in erster Linie der Inbegriff desjenigen Wissens, das Allgemeinheit und Notwendigkeit beanspruchen kann, d. h. welches stets und für alle Menschen in allen Kulturen gilt, und dessen Inhalt wir mit dem Bewusstsein verbinden, es müsse sich notwendig so verhalten. Damit werden Sätze wie ‚Die Ehe ist unauflöslich‘ oder ‚Tübingen liegt am Neckar‘ offensichtlich aus dem Bereich dessen ausgeschlossen, was ‚Wissenschaft‘ heißen soll, denn der erste Satz gilt in vielen Kulturen und Religionen nicht, und der zweite gibt keinen notwendigen Zusammenhang wieder. Aber auch viele Sätze aus den Naturwissenschaften sind nach diesem Verständnis eigentlich nicht ‚wissenschaftlich‘ – in der Zoologie ist es etwa nicht notwendig, dass bei der Einteilung der Säugetiere irgendwo auch die Unterscheidung in Feliden und Kaniden vorkommt, denn man könnte auch eine andere Einteilung finden als in Katzen und Hunde. Die

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      Sätze der Newtonschen Mechanik sollen dagegen (im Makrobereich) ebenso notwendig und allgemein gelten wie E=mc2.

      Was heute als ‚Wissenschaft‘ bezeichnet wird, deckt sich also nur zum Teil mit dem, was für Nietzsche diesen Begriff ausmachte. Er umfasste weit mehr als den Bereich des Wissens, den wir heute demjenigen Denk- und Handlungszusammenhang zuordnen, welchen wir als ‚Wissenschaft‘ bezeichnen und ihn damit von einem anderen Denken unterscheiden, das etwa in der Politik mit dem Ziel des Entscheidens über Regeln des Zusammenlebens, in den Religionen mit dem Ziel einer Vorgabe für das richtige Handeln für Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise verpflichtet fühlen, oder auch in der Philosophie mit dem umfassenden Anspruch einer Reflexion auf die Grundlagen des Wissens durchgeführt wird. Diese Unterscheidung war noch nicht in der uns bekannten Weise selbstverständlich

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