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westlichen Welt der Fall ist. Lange Zeit hatten aus Begriffen und reinem Denken (und sehr vielen Annahmen, die man einfach als selbstverständlich akzeptierte) entwickelte Sätze über Gott, die Welt und den Menschen bzw. seine Seele ebenso als Bestandteile eines notwendigen und allgemeinen Wissens gegolten.

      Erst Kant hatte die Frage nach der Möglichkeit und der Legitimation für ein solches Wissen neu und radikal gestellt. Seine erste Einsicht war, dass ein Wissen, dem Notwendigkeit und Allgemeinheit zugeschrieben werden kann, keinesfalls aus der Erfahrung genommen werden kann, d. h. nicht a posteriori (also ‚nach‘ und in Abhängig­keit von der Erfahrung) gelten kann, sondern es muss sich um ein Wissen a priori handeln, also ‚vor‘ und ohne Abhängigkeit von der Erfahrung. Da wir von Wissen aber nur dann sprechen, wenn wir durch die Vertrautheit mit ihm etwas über die Welt erkennen (und nicht nur über die Weise, wie wir unsere Begriffe verwenden), deshalb darf es sich auch nicht nur um eine Analyse unserer Sprache handeln – offenbar sehen wir Sätze wie ‚Schimmel sind weiße Pferde‘ oder ‚Junggesellen sind unverheiratete Männer‘ nicht als Bestandteile unseres Wissens, sondern als Erklärungen der Bedeutung von Wörtern an. Die Frage nach dem Bereich dessen, was wir als ‚Wissenschaft‘ bezeichnen können, nahm deshalb in Kants Denken die Form einer Frage nach der Begründung apriorisch-synthetischer Urteile an, also solcher Sätze, die zum einen vor und unabhängig von der Erfahrung gelten und deshalb beanspruchen können, notwendig und allgemein zu gelten, und die uns zum anderen nicht nur etwas über unsere Sprache sagen, also nicht ‚analytisch‘ sind, sondern eine Synthese von zwei verschiedenen Vorstellungen enthalten, deren Verbindung uns zuvor noch nicht bekannt war.

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      Kant hatte auf dieser Grundlage eine Antwort gefunden, die eine solche Wissenschaft nur noch in einem bestimmten Bereich gelten ließ, nämlich in dem, was er als erste ‚Möglichkeitsbedingungen‘ des Erfahrens von Objekten identifizierte. Diese ‚subjektiven‘ Voraussetzungen für unsere Erfahrung stellte er unter dem Titel ‚Kategorien‘ zusammen und arbeitete sie schließlich als ‚Grundsätze‘ desjenigen Gebrauchs unseres Verstandes aus, in welchem wir in ihm selbst apriorisch-synthetische Urteile gewinnen können. Das Entscheidende an diesem Gedanken ist, dass darüber hinaus gerade kein Wissen im genannten Sinne von ‚Wissenschaft‘ mehr möglich ist. Der Bereich dessen, was wir als ‚Wissenschaft‘ in diesem strengen Sinne bezeichnen können, ist auf diese Weise offenbar sehr klein geworden. Vor allem umfasst er nicht den Bereich des Wissens, das wir heute als Wissenschaft bezeichnen, wenn wir entweder alles, was in ‚Universitäten‘ genannten Institutionen als ‚Wissen‘ bezeichnet wird, oder zumindest den Teil davon, der nach den Grundsätzen des Modells der Naturwissenschaften erzeugt wurde, dem Bereich der ‚Wissenschaft‘ zurechnen. Das geht nach Kants Denken natürlich schon darauf zurück, dass es sich bei dem in diesem Sinne ‚wissenschaftlichen‘ Wissen nicht um ein apriorisches Wissen handelt und deshalb nicht um ein Wissen, das mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und Notwendigkeit auftreten kann.

      Das scheint uns heute nichts Besonderes zu sein. Inzwischen ist es für die meisten Menschen selbstverständlich geworden, dass die Wissenschaft nicht nur ausschließlich aus der Erfahrung stammendes und methodisch in ihr begründetes Wissen ansammelt, sondern dass dieses Wissen auch keine Ewigkeitsbedeutung besitzt und schon gar keine Notwendigkeit. Diese Einsicht verbreitete sich vor allem durch Poppers Gedanken, dass das Wissen eigentlich nie verifizierbar ist, sondern nur falsifizierbar, d. h. wir gewinnen Erkenntnisse, indem wir versuchen, Geltung beanspruchende Sätze zu widerlegen. Gelingt uns dies nicht, so können wir sie akzeptieren – aber nur in dem Sinn, dass wir sie als ‚noch nicht falsifiziert‘ auffassen, was ein Verständnis von Wissenschaft als System notwendig und universell geltender Aussagen natürlich ausschließt. Im Anschluss daran wurde ein Selbstverständnis der modernen Wissenschaft entwickelt, das sie weitgehend als die Ausarbeitung solcher Zusammenhänge von Aussagen auffasst, die gemäß den Kriterien für Wissenschaftlichkeit, wie sie innerhalb der ‚scientific community‘ gelten, als ‚lebensfähig‘ aufgefasst werden, d. h. es lohnt sich, an ihnen festzuhalten, weil sie nicht widerlegt wurden, sich bewährt haben und man einfach keine besseren Theorien zur Verfügung hat. Man sollte allerdings beachten, dass es immer noch reflexionsfreie Zonen in der Wissenschaft gibt, in denen etwa manche Hirnforscher ihre Ergebnisse als endgültige Aufklärung über das Wesen des Menschen ansehen oder Physiker hoffen, auf der Grundlage ihrer Forschungen ‚­Gottes Gedanken vor der Erschaffung der Welt‘ lesen zu können.

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      Zunächst aber sollten wir festhalten, dass sich bei Nietzsche der Begriff vom Wissen als Wissenschaft noch aufs Engste mit dem Wissen als Philosophie verband. Das heißt nicht, dass er Kant widerlegen oder hinter dessen Denken zurückgehen wollte. Die Richtung seiner Fragen war vielmehr eine andere. Das gerade ist aus der Schrift über ‚Die Geburt der Tragödie‘ gut zu erkennen. Wir können schon an dieser Stelle sagen: seine Frage war anders als die von Kant nicht nach der Geltung des Anspruchs von Sätzen auf Wissenschaftlichkeit, sondern nach der Genesis dieses Anspruchs. Man könnte auch sagen, er stellte sich die Frage nach dem Ursprung einer Philosophie, aus derem Denken eine Auffassung von Wissen entstehen konnte bzw. musste, das als Wissenschaft in dem eben skizzierten Sinne einer Erkenntnis mit dem Anspruch auf dauernde und absolute Geltung auftreten muss. Man sollte hier beachten, dass es sich dabei nicht um ein Wissen handeln kann, das nur zum Problemlösen dienen soll. In diesem Fall nämlich könnte sich unser Wissen ganz fundamental ändern, ohne dass sich die ‚Gegenstände‘, auf die sich das Wissen bezieht, geändert haben. Der Bezugspunkt eines solchen Wissens wären nicht die Gegenstände in der Welt ‚an sich‘, sondern unsere menschlichen Probleme mit ihnen, und wenn diese Probleme sich ändern, so würde sich auch das Wissen ändern, das wir nur zu deren Lösung entwickelt haben, und auch wenn sich die menschlichen Probleme kurzfristig nicht sehr verändern mögen – auf lange Sicht tun sie es doch.

      Wenn Nietzsche von ‚Wissenschaft‘ schreibt, so sollten wir also beachten, dass es dabei (a) nicht einfach um das geht, was wir heute so bezeichnen, und auch nicht um das, was man auf der Grundlage des Selbstverständnisses vieler Wissenschaftler als das Methodenideal der Wissenschaft bezeichnen könnte, das nach dieser Auffassung meistens in der Physik am besten realisiert angesehen wird, und dass dabei nichtsdestoweniger (b) ein anspruchsvoller Begriff von Wissenschaft verwendet wird. Dass dieser Anspruch eingelöst werden kann, dies war für Nietzsche jedoch keineswegs selbstverständlich, ebenso wenig wie es ihm sicher erschien, dass das Wissen nur in der Wissenschaft zu finden sein soll, wie sie dem Ideal der Wissenschaftler entsprach. Jedenfalls sah er in diesem Anspruch ein Problem, und wir können vorwegnehmend schon festhalten, dass dieses Problem zu einer der wenigen – wenn auch nicht der einzigen – Leitfragen seiner Philosophie werden sollte. In dem viel später geschriebenen „Versuch einer Selbstkritik“ zu jenem Buch über die Tragödie und deren Geburt aus dem Geiste der Musik reflektierte Nietzsche so über dieses zentrale Thema: „Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, … heute würde ich sagen, dass es das Problem der Wissenschaft selbst war – Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst.“ (GT III-1, 7) Seine Philosophie sollte nach dieser Leitfrage also nicht in erster Linie die Aufgabe haben, ein Wissen

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      zu entwickeln, das sich auf die Welt und den Menschen richtet, sondern es sollte von Anfang an um eine Reflexion auf das gehen, was als Wissen bezeichnet wird – also auf das ‚Problem der Wissenschaft‘.

      Mit dieser Einschränkung – Reflexion auf das Wissen statt Wissen – begann ­Nietzsche auf dem Stand zu denken, den die Philosophie schon längere Zeit vor ihm als für sich angemessen gefunden hatte. Dieser Weg begann grundsätzlich bereits bei Descartes, dem es in seiner berühmten Begründung alles Wissens im seiner selbst gewissen Ich und d. h. in der Selbstreflexion auf den Akt des Denkens in erster Linie auf die Frage ankam, was wir wirklich mit Sicherheit und Gewissheit wissen können und wie wir diesen Status auf die Art und Weise der Gewinnung unseres Wissens übertragen können. Endgültig hatte jedoch Kant die Aufgabe der Philosophie auf die einer solchen Reflexion – was bei ihm ‚Kritik‘ hieß – begrenzt, und eine der wichtigsten Aufgaben seiner theoretischen Philosophie bestand gerade darin, die Ansprüche einer ‚rationalen‘ Theologie, Psychologie und Kosmologie auf für alle Menschen notwendig geltende

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