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hier zeigt sich wiederum, wie wichtig es ist, sich von Nietzsches bisweilen etwas ‚romantischen‘ Formulierungen nicht dazu hinreißen zu lassen, seine Theorie über die Tragödie und die darin angelegte Philosophie der Wissensform der Wissenschaft und deren künstlerische

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      Reflexion allzu sehr in einem existenziellen Sinne misszuverstehen. Dieser Aspekt ist zwar nicht vollständig verkehrt, weil er in Nietzsches Denken über die gestaltende und bildende Individuierung am Grunde des begrifflichen und dann wissenschaft­lichen Verstehen enthalten ist.

      Ein solches Verstehen wird jedoch dann vollständig falsch, wenn es isoliert und verabsolutiert wird. Gemeint ist hier in erster Linie, dass alles, was entsteht, in einem Prozess des Individuierens und Gestaltens entsteht. Diesen Prozess hat es in sich, so dass es keine an sich geltende und im Sein selbst begründete Existenz besitzt. Deshalb hat es auch seinen ‚Untergang‘ in sich, d. h. es steht ihm ein Wandlungsprozess in eine andere individuierte Gestalt bevor – oder aber seine Auflösung in seinem individuellen Dasein. Das könnten wir vom einzelnen Menschen ebenso wie von sozialen Gebilden sagen; aber nach Nietzsche gilt dies natürlich auch für Begriffe, Erkenntnisse und Wissensformen, die in diesem Sinne ‚Individuen‘ und damit Ergebnisse von Gestaltungs- und Bildungsprozessen sind, weshalb auch sie ihren ‚Untergang‘ in sich tragen.

      Der entscheidende Begriff in der oben zitierten Stelle ist deshalb eigentlich der von ‚Wandelgestalten‘, unter dem wir Menschen, soziale Gebilde, Begriffe, Wissenschaften und Wissensformen selbst subsumieren können. Wenn Nietzsche an derselben Stelle dann von einem ‚metaphysischen Trost‘ spricht, so ist nicht gemeint, wir hätten in der Auflösung aller festen Bestimmtheiten und Existenzen die tiefere – oder ‚höhere‘ – Wahrheit gefunden. Ihre Wahrheit hat auch die Auflösung von Individuen – auch von Begriffen und Erkenntnissen – nur zusammen mit ihrer Gestaltung und Bildung bzw. Neugestaltung und Neubildung. Der ‚metaphysische‘ Trost liegt dann eigentlich darin, dass eine Erkenntnis in der Regel durch eine neue Erkenntnis abgelöst wird und wir meistens einen neuen Begriff finden, wenn ein alter im ‚Fortschritt‘ des Denkens oder des Wissens seine Bedeutung verloren hat.

      In dieser frühen Phase seines Schaffens hatte Nietzsche allerdings die Frage nach der Möglichkeit einer neuen prinzipiell tragischen Kunst für sich schon beantwortet. Damit sind wir bei Richard Wagner und seiner Musik, der Nietzsche in der frühen Phase seines Denkens eine große – um nicht zu sagen: weltbewegende – Bedeutung für die Kultur und alles Denken zuschrieb. Diese Bedeutung entstand aus der Frage, „ob die Macht, an deren Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern.“ (GT III-1, 107) An dieser Stelle bleibt also offen, dass die Tragödie

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      ein Revival in dem Sinne erleben könnte, dass sie nicht als eine beliebige Kunstform unter anderen auftritt, sondern in dem ausgezeichneten Sinne im Zusammenhang des Erscheinens des Dionysischen in der Artikulation und damit im Apollinischen, wie Nietzsche dies für die griechische Tragödie behauptete. Zumindest eine Zeit lang war Nietzsche der Ansicht, dies könne im ‚Musiktheater‘ Richard Wagners der Fall sein.

      Wenn an dieser Stelle von Richard Wagner die Rede ist, so muss zunächst berücksichtigt werden, dass dieser nach Nietzsches Auffassung gerade kein Opernkomponist war, wie wir dies heute wohl zu verstehen geneigt sind. Als solcher hätte er für ­Nietzsche überhaupt keine Bedeutung gewinnen können, denn die sokratische Kultur – also die Kultur der Wissensform der Wissenschaft und des theoretischen Menschen – war für ihn auf musikalischem Gebiet gerade die „Kultur der Oper“ (GT III-1, 116). Das bedeutet vor allem, dass in einem solchen Musiktheater nun der Dialog im Vordergrund steht (wie etwa im Rezitativ) und nicht die Musik, die nur zur Untermalung der Handlung und der Dialoge dient. Dagegen steht allerdings schon die Rettung bereit, die ­Nietzsche in etwas nahen sieht, das er als „die deutsche Musik“ bezeichnet: „Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.“ (GT III-1, 123)

      Warum es allerdings gerade die deutsche Musik sein soll, die eine solche rettende Kraft aufbringen können soll, und nicht die absolute Musik überhaupt, ist schwer zu verstehen. Man muss in diesem Zusammenhang auch akzeptieren, dass ­Nietzsche hier gegen Ende des Buches über die ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ so manche Überlegungen beginnt, bei denen man an seine nationalsozialistische Vereinnahmung denken sollte und daran, dass sich bei entsprechender Suche in seinen Texten die geeigneten Zitate dafür finden lassen – möge ein harmloses Beispiel genügen: „Dabei lebt in uns die Empfindung, als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in hilfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knechtschaft unter ihrer Form gezwungen hatten.“ (GT III-1, 124) Das könnte so verstanden werden, als wollte ­Nietzsche gerade dem deutschen ‚Wesen‘ die größere Nähe zum Tragischen zuschreiben, welche nur durch das Walten ‚fremder‘ Mächte an der Realisierung gehindert werde. Lassen wir diese Abwege im Denken ­Nietzsches

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      also auf sich beruhen – der Leser wird in den Werken reichlich vergleichbare Stellen finden, sollte ihm der Sinn merkwürdigerweise danach stehen.

      Beschränken wir uns auf Richard Wagner und sein ‚Musiktheater‘. Im Unterschied zu dem, was sonst unter die Gattungsbezeichnung ‚Oper‘ gestellt wird, sieht ­Nietzsche in dessen Musikdramen – und speziell in ‚Tristan und Isolde‘ – jenes Verhältnis von Sprache und Musik wieder auferstehen, das mit der ‚klassischen‘ Tragödie bei ­Äschylos und Sophokles untergegangen war, und zwar letztlich durch das Heraufziehen des sokratisch-platonischen Geistes. Wagner sei es gelungen, aufs neue jene „prästabilierte Harmonie“ herzustellen, „die zwischen dem vollendeten Drama und seiner Musik waltet.“ (GT III-1, 133) Im Unterschied zur absoluten Musik kommt hier jedoch die Sprache hinzu, die aber im Unterschied zur Oper in Wagners Musikdramen gerade nicht durch die Musik ‚erläutert‘ wird. Durch diese Eigenständigkeit der Musik nimmt das Musikdrama eine besondere Bedeutung an: „Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen.“ (GT III-1, 134) Was daran sichtbar werden kann, ist also diese Einsicht: „die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben.“ (GT III-1, 134)

      Darin soll der „ästhetische Zuhörer“ wiedergeboren worden sein, der sich auf eine „ästhetische Tätigkeit“ versteht (GT III-1, 138 –139). Mit dieser Tätigkeit ist vor allem eine Rezeption gemeint, die die Musik und vor allem die Tragödie nicht von dem her versteht, was sie uns sagen will – in der also die Musik als Musik aufgefasst wird und nicht als Illustration, Untermalung oder emotionale Verstärkung dessen, was auf der Bühne geschieht bzw. was der Zuhörer gerade an Vorstellungen über die Welt, das Leben oder seine privaten Wünsche im Kopf hat. Es handelt sich also um eine Rezeption vom Geiste der Musik her, nicht vom Geist der Sprache von Aussagen her. ­Nietzsche stellt dazu die ironisch-rhetorische Frage: „Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter ‚Bildung‘ vorstellt.“ (GT III-1, 140) Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: ­Nietzsche setzt natürlich voraus, dass seine Leser mittlerweile seine Gedanken über Musik, Sprache und Denken so weit verstanden haben, dass sie diese Frage ganz selbstverständlich etwa mit ‚auf keinen Fall, so jemand kann doch keinen guten Geschmack haben‘ beantworten.

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