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vermeiden – es geht keineswegs darum, dass das Schöne ‚höher‘ als das Wahre oder das Gute ist oder dass die Welt unter ästhetischen Wertmaßstäben beurteilt werden soll und nicht etwa unter ethischen.

      Aus den Erörterungen über die ‚Geburt der Tragödie‘ ist schon deutlich geworden, dass das ‚Ästhetische‘ bei ­Nietzsche nicht ‚das Schöne‘ meint. ‚Ästhetisch‘ sind die beiden Prinzipien der Sinngebung und damit der Verständlichkeit der Welt, die hier als ‚das Apollinische‘ und als ‚das Dionysische‘ bezeichnet werden. Keines von beiden kann jedoch alleine auftreten, obwohl eine sehr verschiedene Gewichtung in ihrem gemeinsamen Erscheinen möglich ist. Es kann allerdings sein, dass im Ergebnis das eine von beiden verschwindet und sie deshalb nicht mehr in ihrem Walten erkennbar werden. ­Nietzsche sieht die Besonderheit der ‚klassischen‘ griechischen Tragödie gerade darin, dass in ihr das eine Prinzip nicht im anderen verschwindet, sondern dass sie

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      in ihrem ‚Zusammenspiel‘ wahrnehmbar werden, in dem das Apollinische nicht das Dionysische beschreibt oder illustriert (wie ein schlechtes Bild, das sich darin erschöpft, einen ebenso sprachlich beschreibbaren Sachverhalt darzustellen), und in dem das Dionysische nicht im Apollinischen verschwindet (wie dies in Texten geschieht, die sich nur an einen Sachverhalt in der Welt anpassen sollen).

      Wenn von der ‚ästhetischen‘ Rechtfertigung die Rede ist, so enthält dies allerdings auch den Bezug auf das Sinnliche. Der Begriff stammt sogar von aistánesthai, d. h. ‚wahrnehmen‘, wovon das Substantiv aisthesis (Wahrnehmung, Empfindung) lautet. Man könnte nach diesem Begriffsursprung also von einer Lehre von dem sprechen, was sinnlich erscheint, bzw. von der Wahrnehmung, weshalb auch der Begriff aistetike herangezogen werden könnte, d. h. eine die Sinne in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit betreffende Wissenschaft. Der Begriff ‚Ästhetik‘ selbst wurde allerdings erst viel später von A. Baumgarten in seinem 1750/58 erschienenen Werk ‚Aesthetica‘ verwendet. Hier ist eine Theorie der Erkenntnis gemeint, in welcher die Bedeutung der Sinnlichkeit stark aufgewertet, ja sogar die Theorie einer eigenen Erkenntnisfähigkeit durch Sinnlichkeit entworfen wurde. Es lag nahe, dass damit der Kunst und allgemein der Erfahrung des Schönen eine besondere Bedeutung für die Erkenntnis zugeschrieben wurde. Auf dieser Grundlage entstand dann bei Kant die Grundlegung einer Ästhetik als einer philosophischen Lehre von der philosophischen Bedeutung der Kunst, die sich über Schiller, Hegel, Heidegger, Gadamer, Adorno bis hin zu Dewey, Rorty, Goodman und Danto fortsetzt.

      Das Sinnliche kann in einer Ästhetik aber nicht als dasjenige aufgefasst werden, was verstanden als ‚Sinnesdata‘ in den Prozess der Erkenntnis eingeht und etwa in Form von Anschauungs- oder Protokollsätzen die Verifikationsgrundlage der Wissenschaft bildet, wie dies vom logischen Empirismus beansprucht wurde. Die ratio einer jeden Ästhetik liegt darin, dass der sinnlichen Wahrnehmung eine ganz eigene Bedeutung zugeschrieben wird, die sich nicht im Entstehen theoretischer Erkenntnis erschöpft. Wir haben gesehen, dass ­Nietzsche gerade der Musik eine solche spezielle Bedeutung in der Auffassung der Welt zuschreibt. Es liegt deshalb nahe, dass

      

„die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens zu verstehen ist.“ (GT III-1,148)

      Das Interessante an dieser Formulierung ist im Grunde der Einschub zwischen den zwei Kommata nach ‚Musik‘: „neben die Welt hingestellt“. Offensichtlich will ­Nietzsche

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      damit zum Ausdruck bringen, dass die Musik eine solche Erläuterung nur dadurch geben kann, dass wir sie neben die ‚Welt‘ stellen – womit die ‚empirische‘ Welt gemeint ist, die nach ­Nietzsche ‚Erscheinung‘ ist und damit der apollinischen Sphäre der individuierten Gestalten angehört.

      ‚Neben‘ dieser Welt ist die Musik die Auflösung der individuierten Gestalten und ihr Übergang zu anderen Gestalten – Musik erklingt nur, wenn die Töne entstehen und vergehen; ein Ton allein macht keine Musik. Sie stehen aber nicht individuiert nebeneinander, sondern entwickeln sich durch die Gliederung des Rhythmus zu einer Melodie. Insofern sind die Töne in der Musik ‚Wandelgestalten‘ (GT III-1, 105). Wir könnten also ganz allgemein sagen, dass das Werden und Vergehen in der Musik eine Erläuterung über die ästhetische Rechtfertigung der Welt gibt, wenn wir sie neben die festen und individuierten Gestalten stellen, die wir in der empirischen Welt finden, wenn wir sie als solche auffassen, oder die uns in der Kunst die Plastik zeigt. Die Musik klärt uns also darüber auf, dass die Welt das Ergebnis des apollinischen und des dionysischen Prinzips darstellt, d. h. sie beseitigt die Einseitigkeit und Abstraktheit, die in der sokratisch-platonischen Welt und danach in der ganzen Wissensform der Wissenschaft nur noch das Apollinische und damit das Individuierte und die einzelnen Gestalten erkennen will und dabei vernachlässigt, dass es sich um Prozesse, Bildungen und Gestaltungen bzw. Individuierungen handelt, die entstanden sind und entsprechend wieder vergehen.

      Damit bleibt allerdings noch die Frage offen, inwiefern und wieso die Welt dadurch ‚gerechtfertigt‘ ist. Es kann ja zugegeben werden, dass die Betrachtung von Entstehen und Vergehen, von Individuierung und festen Gestalten ein besseres Verständnis der Welt und des Menschen erlauben – aber warum soll deshalb die Welt ‚gerechtfertigt‘ sein? Dieses Problem nimmt als selbstverständlich, dass es sich dabei um einen ­ethischen Begriff handelt, der weitgehend durch ‚moralisch richtig‘ ersetzt werden könnte. Das würde jedoch voraussetzen, dass er in den Zusammenhang einer ausgearbeiteten Ethik gestellt werden könnte, aus dem er seine Rechtfertigungskraft erhalten müsste. Davon ist bei ­Nietzsche aber an dieser Stelle noch überhaupt nicht die Rede – und eine solche Ethik wird ­Nietzsche auch später nicht ausarbeiten, obwohl ‚Moralphilosophie‘ im Sinne einer Philosophie der Moral in seinem Denken eine große Bedeutung einnehmen wird. Wir müssen deshalb versuchen, für die ‚ästhetische Rechtfertigung‘ der Welt eine nicht-ethische Bedeutung zu finden.

      Dies kann am einfachsten dadurch gelingen, indem wir berücksichtigen, dass an dieser Stelle des Denkens eine Ethik und eine moralische Auszeichnung von Ereignissen und/oder Begriffen überhaupt noch nicht stattfinden kann. Es geht an dieser Stelle um den Anfang der begrifflichen Einteilung der Welt in individuierte Gestalten.

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      Dazu gehört auch die Einteilung der Sprache durch ‚Artikulation‘ in individuierte Wörter, aus denen dann in der Auflösung der Wörter im Satz ein sinnvolles und d. h. verständliches Sprechen entstehen kann. Offenbar würde ein ethischer Zusammenhang, aus dem der Begriff ‚gerechtfertigt‘ eine ethische Bedeutung erhalten könnte, gerade das Ergebnis dieses Prozesses voraussetzen – er müsste bereits individuierte Gedanken und Begriffe verwenden können. Was ­Nietzsche mit der ästhetischen Rechtfertigung der Welt meint, muss also eine vor-ethische und ‚außermoralische‘ Rechtfertigung sein.

      Wir könnten deshalb nun sagen, dass ­Nietzsche mit seinem Satz, nur als ästhe­tisches Phänomen sei die Welt und das Dasein gerechtfertigt, vor allem meint, eine solche Rechtfertigung sei in erster Linie deshalb gegeben, weil sich an dieser Stelle eines Entstehens von Bestimmtheit aus Unbestimmtheit, von individuierten Gestalten, von einzelnen Begriffen in kreativen Prozessen des Schaffens gleichsam von Künstlern, eine Frage nach Rechtfertigung überhaupt noch nicht stellt. Natürlich könnte man hier sogleich einwenden: wenn es prinzipiell keine Möglichkeit des Fehlschlagens von Rechtfertigung gibt, dann lässt sich der Begriff der Rechtfertigung überhaupt nicht sinnvoll gebrauchen. Das ist gewiss richtig. Dieser Einwand setzt aber wiederum jene Situation des Entstehens von Artikulation im Prozess des individuierenden Gestaltbildens voraus, von dem ­Nietzsche hier spricht. Vermutlich kann man von einem solchen Anfang der Bestimmtheit der Welt nur in Begriffen sprechen, die bereits dem Bereich der Bestimmtheit angehören, obwohl mit dem Gemeinten eben auf die Genesis dieses Bereichs zu reflektieren versucht wird.

      ‚Gerechtfertigt‘ ist die Welt als ästhetisches Phänomen also in dem Sinn, dass sie als ästhetisches Phänomen in der ursprünglichen Bildung im Wechselspiel von Apollinischem und Dionysischem erst entsteht – wenn wir von ‚Welt‘ als artikulierbarer sprechen, die in der Artikulation

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