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Beobachtungen im Gegensatz zu den unumstößlichen Tatsachen? Mit ungewohnter Verzögerung entschied er, diesem unerklärbaren Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Beseitigung der Eisgräfin konnte warten. Der Eisbaum von Orondinur war dem Tod geweiht. Dadurch würde die ehemalige Königin zweier Länder sowieso ihre besondere Fähigkeit verlieren. Sie stellte keine Bedrohung mehr dar.

      Das Schicksal des schwer verwundeten Pylax kümmerte den bleichen Mann nicht. Mit neu erwachtem Elan nahm er die Verfolgung des Ritters mit der goldenen Rüstung auf. Während auch er im Osten verschwand, brach Duotora zornig ihre Flucht ab und kehrte an den Ort des Geschehens zurück.

      Seit ihrer Reise von Sindra nach Oot vor vielen Jahren stand Argo a Narga schützend an ihrer Seite. Und jetzt, da er ein einziges Mal ihre Hilfe benötigt hätte, war sie geflohen. Dass sie einem offenbar übermächtigen Gegner gegenübergestanden hatte, entschuldigte Duotoras Verhalten in ihren eigenen Augen nicht.

      Die Umgebung des sterbenden Eisbaums wirkte verlassen. Elf Leichen lagen verstreut umher, ferner ein schwerverletzter Pylax. Den elf Toten konnte niemand mehr helfen, wohl aber dem Krieger aus Zitaxon mit der rätselhaften Brandwunde.

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      Jalbik Gisildawain sah sich gehetzt um.

      „Fürs Erste sind wir den Häschern des Hafenmeisters entkommen“, beruhigte ihn Stilpin.

      Die Kutsche stand nun abseits der ohnehin unbelebten Straße auf einer Lichtung in einem nur schwer zugänglichen Waldstück. Der Kutscher hatte all seine Fertigkeiten aufbieten müssen, um diese von Stilpin ausgekundschaftete Stelle zu erreichen.

      Mittlerweile hatten sie auch längst die Hauptverkehrsader zwischen Dukhul und Zitaxon verlassen. Dort schien die Entdeckungsgefahr einfach zu groß. Ein weiterer Grund lag darin, dass Stilpin und der Freibeuter beschlossen hatten, nach Borthul zu fliehen. Zwar widerstrebte ihnen der Gedanke, dorthin zurückzukehren, wo sie erst unlängst hergekommen waren; andererseits bot sich aber voraussichtlich nur in Lodumon oder Flagant die Gelegenheit, mit Hilfe eines Schiffes die Ovaria an einen möglichst sicheren Ort zu bringen. Insgeheim schwebte Stilpin das Paradies der Küste in Oot als Zielort vor. Dort würde er sich endlich auch seinen eigenen Traum erfüllen können.

      „Wir können uns nicht ewig hier verstecken“, nörgelte Jalbik Gisildawain.

      „Das habe ich auch nicht vor“, entgegnete der Priester des Wissens. „Ich werde den weiteren Verlauf des Weges erkunden. Danach können wir aufbrechen.“

      Ohne die Zustimmung seiner beiden Reisegefährten abzuwarten, ging Stilpin zu einem der ausgeschirrten Kutschpferde und legte ihm einen Sattel auf. Sodann schwang er sich auf den Rücken des Pferdes und verschwand zwischen den dicht stehenden Bäumen am Rande der Lichtung.

      Jalbik Gisildawain und der Kutscher harrten unschlüssig neben der Kutsche aus und hingen ihren Gedanken nach. Mit einer schwebenden Leichtigkeit entfernten sich diese Gedanken von ihrer derzeit misslichen Lage. Immerhin waren die Beschützer des Raupenwesens in einem feindlichen Land gestrandet und einer gnadenlosen Verfolgung ausgesetzt. Die Ausstrahlung der Ovaria ließ sie diese bedrohliche Lage aber vorübergehend vergessen.

      Zwei Stunden mussten seit dem Aufbruch Stilpins bereits vergangen sein. Zunehmend begann eine körperliche Unruhe, die heitere Stimmung der beiden Männer zu verdrängen. In Wahrheit näherte sich ein Schatten, der den Einfluss der Ovaria überlagerte. Zwischen den Bäumen standen unvermittelt zwei Gestalten.

      Das ist doch nicht möglich!, dachte der Freibeuter und sprang entsetzt auf. Bei dem größeren der beiden Ankömmlinge handelte es sich augenscheinlich um den Fremden, den er im Privatkerker seines Landsitzes auf der Insel Borgoi gefangen gehalten und später gegen den Höchsten Priester ausgetauscht hatte. War er gekommen, um sich zu rächen? Die furchterregende, sensenartige Waffe in seiner Hand mutete wie eine aus Stahl geschmiedete Bestätigung dieser Befürchtung an.

      Jalbik Gisildawain riss das Schwert aus seinem Gürtel. Der Kutscher, der während der ganzen Zeit das Verhalten des Freibeuters beobachtet hatte, tat es ihm gleich. Völlig unbeeindruckt näherten sich die beiden Ankömmlinge. Die Männer aus Borgoi und Obesien konnten nun deutlich die gelben Augen mit den schwarzen Sehschlitzen erkennen. Obwohl die äußere Erscheinung der beiden Fremden ansonsten kaum unterschiedlicher hätte sein können, hatten sie die gleichen Augen.

      „Willst du mich töten, obgleich ich dir das Leben gerettet habe?“, fragte der Freibeuter den weitaus größeren der beiden Männer. Unverkennbar schwangen Angst und Unsicherheit in seiner Stimme mit. Dennoch übersah er nicht den kurzen, erstaunten Blick, den sich die beiden Fremden zuwarfen.

      „Ich bin nicht der, den du wiederzuerkennen glaubst“, antwortete der Mann mit der sensenartigen Waffe. Jalbik Gisildawain wusste in seiner Verwirrtheit gar nicht, was er glauben sollte. Der hässliche, sägende Klang der Worte war ihm durchaus vertraut. Genau so hatte sich die Stimme des Unbekannten angehört, mit dem er stundenlange Gespräche geführt hatte, nachdem er ihn aus dem tosenden Meer vor der Tasche von Derkh gefischt und anschließend in seinem Kerker auf dem Hügel Karadastak gefangen gehalten hatte.

      „Steckt die Waffen weg!“, verlangte nun der Kleinere der beiden Fremden, ein zierlicher Mann mit schneeweißer Haut und goldenen Locken. „Wir wollen euch nicht töten. Aber wenn es sein muss, werden wir es tun.“

      Er bückte sich und hob einen schweren Felsbrocken wie eine Feder empor. Der Freibeuter aus Borgoi wäre nicht in der Lage gewesen, diesen Felsen auch nur um Haaresbreite zu bewegen. Der zierliche, weiße Mann brach den Stein jedoch wie ein morsches Stück Holz in der Mitte entzwei und ließ die beiden Stücke zu Boden fallen. Zögernd steckten Jalbik Gisildawain und der Obesier nach dieser Machtdemonstration ihre Schwerter wieder weg.

      „Mein Name ist Dorothon“, erklärte der Weiße Mann. „Und das ist mein Sohn Quosimanga. Wir werden die Ovaria an einen sicheren Ort bringen.“

      *

      Der Eisgraf atmete auf. Offensichtlich kam er nicht zu spät. Die Blätter des Eisbaums leuchteten in ihrer herbstlichen Farbenpracht. Mit einer unglaublichen Kaskade von Rottönen verabschiedete sich der Baum von dem allmählich zu Ende gehenden Jahr. In Kürze würde in diesem Teil Gatyas der bitterkalte Winter des Nordens Einzug halten, und alles Leben würde vorübergehend unter einer dicken Schneedecke versinken. Septimor hatte das Gefühl, an der Wiege der Menschheit zu stehen. Hier in Bregunzides kündeten die ältesten Zeugen des Kontinents vom frühesten Zusammenleben in einer Ansiedlung: die dicken Mauern dieser Anlage waren lange Zeit vor dem Beginn geschichtlicher Überlieferungen entstanden. Ihre Errichtung wurde den Ur-Sterzen zugeschrieben, einem Volk, dessen Herkunft sich im Dunkel der Vorgeschichte verlor.

      Die Schnurrbartenden des Eisgrafen wippten in einer leichten Brise, die von Gatas herüberwehte, der Hauptstadt des nordwestlichsten Landes. Das leise Rascheln der angetrockneten Blätter zeigte Septimor, dass sich der Lebenssaft des Baumes bereits auf dem Rückzug befand. Dies entsprach jedoch der regelmäßigen Entwicklung im Ablauf der Jahreszeiten. Sollte Grakinovs Sorge unbegründet gewesen sein? Septimor konnte nichts erkennen, was das ruhige und friedliche Bild an diesem ältesten Ort der Zivilisation zu trüben vermochte. Selbst der mäßige Wind war wieder vollständig abgeflaut. Der Eisgraf setzte sich auf eine der ungewöhnlich dicken Mauern, die den mutmaßlichen Hof der vorzeitlichen Festungsanlage begrenzten. Er wartete, ohne zu wissen worauf.

      Wie den meisten Menschen bereitete das Warten auch dem Mann aus Kerdaris keine Freude. Zu ereignisreich war sein Leben verlaufen, als dass er am Müßiggang hätte Gefallen finden können. An einem Ort wie Bregunzides galten jedoch andere Gesetzmäßigkeiten.

      In unmittelbarer Nähe von Eisbäumen wurden die Eisgrafen stets von einer ganz besonderen Stimmung ergriffen. Es fühlte sich an, als ob die Seele auf einer Woge in einem Meer unbeschwerter Empfindungen dahintreiben würde. Die Zeit wurde bedeutungslos bei diesem Bad in der Glückseligkeit.

      Das Licht und vor

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