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sind. Sein Hauptwerk mit dem Titel „Die Proklamation des Umsturzes“ ist verschollen.“

      Tergald legte eine kurze Pause ein, dann fuhr er fort: „Ich glaube nicht, dass Brigaltio wirklich ein Prophet war. Er muss ein Mensch gewesen sein, dem die Hochkönige großes Unrecht angetan haben. Niemand außer ihm hat im alten Sindra je gewagt, den Herrschenden derart offene Worte der Missbilligung entgegenzuschleudern. Entweder wurde er gevierteilt, oder es ist ihm gelungen, unterzutauchen und im Verborgenen weiterzuwirken. Wenn die Hochkönige ihn ergriffen und bestraft hätten, wäre das als Abschreckung gegen aufrührerische Bestrebungen gewiss überliefert worden. Keiner der alten Kriegerkönige hätte solche Worte geduldet. Folglich muss man davon ausgehen, dass stattdessen tatsächlich eine geheime Brutstätte des Zorns entstanden ist, eine Ansiedlung der Verfemten, die über die Zeiten darauf gewartet haben, die Dynastie in einem geeigneten Augenblick zu stürzen. Nach den Worten ihres Propheten ist dieser Augenblick gekommen, sobald „das Verderben seinen Lauf nimmt“. Jahrtausendelang wurde die „Brut der Wut“ nicht entdeckt. Jetzt aber, da sich die Gilde der Seelenlosen angeschickt hat, Tod und Verderben über den Kontinent zu bringen, liegt es nahe, dass die Verfemten ihr Versteck verlassen und sich gegen die alte Ordnung erheben.“

      „Was hat das mit der Ovaria zu tun?“, stellte Sestor die naheliegende Frage.

      „Wenn die Ovaria vom Geflecht der alten Wesenheiten aufgespürt wurde, werden ihre Beschützer sie an einen Ort bringen wollen, den möglichst niemand findet“, mutmaßte der Lokhriter. „Falls es die Brutstätte des Zorns tatsächlich geben sollte, wäre dies der am Besten getarnte Ort auf dem ganzen Kontinent. Denn obwohl er seit Jahrtausenden existieren würde, hat kein Außenstehender je von ihm gehört.“

      „Wenn wir diesen Faden weiterspinnen, frage ich mich, was wir gewonnen haben“, maulte Sestor. „Statt einer gut versteckten Kutsche suchen wir einen noch besser versteckten Ort.“

      Tergald sah zu Chrinodilh. Das Mädchen mit den goldenen Locken nickte ihm zu. Sie hatte verstanden.

      „Es gibt sogar zwei Unterschiede“, belehrte sie den Eisgrafen. „Eine Ansiedlung ist viel größer als eine Kutsche, und sie befindet sich nicht in ständiger Bewegung. Deshalb ist sie trotz allem leichter zu finden.“

      Ilyris hatte bemerkt, dass Tergald mit seinen Vermutungen noch nicht am Ende war. Sie liebte die scharfsinnigen Gedankengänge des Lokhriters.

      „Wo – glaubst du – ist dieser Ort?“, fragte sie.

      „Jedenfalls nicht in Sindra“, erwiderte er. „Im unmittelbaren Machtbereich der Hochkönige wäre ein solches Widerstandsnest längst entdeckt worden. Es gibt hierzulande zu viele Spione und Menschen, die den Hochkönigen wohlgesonnen sind, weil sie selbst von der Herrschaft über den gesamten Kontinent träumen. Andererseits will die „Brut der Wut“ sicherlich schnell zur Stelle sein, wenn sich das nahende Ende der Dynastie abzeichnet. Man wird also wohl annehmen müssen, dass sich der Ort in einem Nachbarland befindet. Lumburia scheidet aus, weil die Ureinwohner von jeher keine Fremden in ihrem Dschungel geduldet haben. Surdyrien lag schon immer im Machtbereich Obesiens. Die Obesier sehen die Sindrier als Feinde an, wobei es für sie gleichgültig ist, ob jemand der Dynastie wohlgesonnen ist oder nicht. Also bleibt nur Borthul übrig.“

      „Müssten Wüteriche nicht befürchten, gerade dort am ehesten aufzufallen?“, wandte Sestor ein. „Borthul ist ein friedliches Land, das seine Nachbarn mit Nahrungsmitteln versorgt.“

      „Deshalb ist es ja auch am besten als Unterschlupf für Menschen geeignet, die es von jeher verstanden haben, sich anzupassen“, erklärte Tergald. „Wir dürfen nicht nach einem außergewöhnlichen Ort suchen, wo sich offensichtlich gefährliche Menschen zusammengerottet haben.“

      „Vielleicht wird es genau die Stadt sein, die am friedlichsten erscheint“, stimmte Chrinodilh zu.

      „Das wäre aber auch auffällig“, meldete sich Ilkir zu Wort. Alle sahen ihn überrascht an. Sein Einwand zeugte von einer unabweisbaren Logik. Bisher hatte jeder den Mivv nur für einen blutrünstigen Jäger gehalten, der sich allein von seinen Sinnen leiten ließ.

      „Wer sagt uns, dass es diese Siedlung wirklich gibt?“, zweifelte Sestor erneut.

      „Gehen wir nach Borthul und finden es heraus!“, beendete Ilyris die Debatte. Sie steckte ihr Schwert weg und ging zu ihrem Schimmel. Damit war die Entscheidung gefallen.

      *

      Er hatte die Karte detailgetreu vor seinem inneren Auge. Deshalb kannte er die genaue Entfernung zur Senke, obwohl er sie noch nicht sehen konnte. Er entschloss sich, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Seit er das kleine Eiland verlassen hatte, waren drei Wochen vergangen.

      Einen „Deltong“ nannten ihn die auf dem Gatyschen Kap beheimateten Menschen. So lautete auch der Name der Insel, auf der er seit unvordenklichen Zeiten gewartet hatte, ohne zu wissen, ob seine Dienste jemals benötigt würden. Gewiss, er hätte die Zeitspanne des Wartens auf die Sekunde genau angeben können. Aber solche Dinge besaßen für ihn keinerlei Bedeutung. Einheiten der Zeit erschienen erst in einem Kampf wichtig. Ein solcher hatte nun jedoch begonnen. Der seit dem Verlassen der Insel verstrichenen Zeitspanne maß er deshalb eine Bedeutung bei, weil er daraus Rückschlüsse auf den Informationsstand seiner Gegner ziehen konnte. Sie als Opfer zu bezeichnen, wäre vielleicht zutreffender gewesen. Aber die eiskalte Logik des Deltong sagte ihm auch, dass sie erst mit ihrer Vernichtung zu Opfern wurden. Bis dahin waren sie seine Gegner. Und diese Gegner wussten inzwischen wahrscheinlich über den Beginn der Säuberungsarbeiten Bescheid.

      Seine Schöpfer hatten die genaue Vorgehensweise festgelegt und in seinen biologischen Schaltkreisen verankert. Zuerst musste er sich den Seelenstein an der Wurzel eines Riesenbaumes beschaffen. Dieser Stein würde ihn unbesiegbar machen. Danach musste er alle Gegenstände und alte Wesenheiten auslöschen, die Rückschlüsse auf die einstige Anwesenheit der Schöpfer zuließen. Zuletzt, nach der Erledigung all dieser Aufgaben, durfte er sich selbst zerstören.

      Das Signal, das die Deltongs veranlassen sollte, ihr winziges Eiland zu verlassen, war ausgelöst worden. Dies bedeutete, dass es keinen Schöpfer mehr auf der großen Insel gab, die die Menschen als „Kontinent“ bezeichneten.

      In seinen schwarzen Stiefeln näherte sich der Deltong der Senke von Tarrda, der Heimstatt des Eisbaums von Kerdaris. Bald konnte er die schwarzen Ränder des weitläufigen Lochs erkennen. Die Schöpfer hatten den Deltong mit allen Kenntnissen ausgestattet, die im Zusammenhang mit seiner Aufgabe von Belang sein konnten. Daher wusste er, dass vor Millionen von Jahren ein großer Gesteinsbrocken vom Himmel herabgefallen und an dieser Stelle aufgetroffen war. Die Schöpfer bezeichneten ihn als einen „Meteoriten“. Seine glühende Hülle hatte den Boden derart verbrannt und verglast, dass mit Ausnahme des Eisbaums seither keine Pflanze mehr in der Senke wuchs.

      Der Seelenlose verließ sich nicht ausschließlich auf seine eigenen Sinne, die man durchaus mit denen der Menschen vergleichen konnte. Er zog ein kleines Gerät aus einer Tasche seiner weiten, schwarzen Hose. Es gehörte zu der Ausstattung, mit der ihn die Schöpfer versehen hatten. Dieses Gerät verfügte über eine Reihe kleiner Knöpfe, mit deren Hilfe es sich in unterschiedliche Gegenstände verwandeln konnte. Die Schöpfer hatten sie als „Realprojektionen“ bezeichnet. Der Kern des Geräts, den sie „Energieprojektor“ nannten, blieb dabei stets unverändert erhalten.

      Der Deltong betätigte einen der Knöpfe. Das Gerät veränderte sich nicht, zeigte dem schwarzgekleideten Mann aber an, was er mit seinen eigenen Sinnen bereits wahrgenommen hatte: weit und breit gab es kein lebendes Wesen, das von seiner Gestalt her als möglicher Gegner in Betracht gekommen wäre. Der Deltong empfand bei dieser Erkenntnis keine Erleichterung oder Befriedigung. Zu Gefühlen war er nicht fähig, noch nicht. Er steckte das Gerät wieder weg und bewegte sich weiter auf den Rand der Senke zu. Der Auftrag konnte nun zügig erledigt werden.

      Das Instrument der Schöpfer eignete sich nicht nur dazu, das Vorhandensein lebender Wesen in einem bestimmten Umkreis festzustellen. Der Benutzer konnte sich damit auch noch ganz andere Dinge anzeigen lassen. Dafür bestand jedoch nach der berechnenden Logik des Deltong keine Veranlassung. Die auf

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