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Trotz der nahen Ovaria versiegte offenbar zusehends die Kraft des kleinen Raupenwesens.

      Der Freibeuter wunderte sich nun auch nicht mehr darüber, dass die restliche Bevölkerung von Borthul keinerlei Interesse am westlichen Landesteil und den „freien Menschen der Flüsse“ hatte.

      Die Zuflucht in der ärmlichen Ansiedlung erschien ihm wegen der damit verbundenen Widrigkeiten sicherer als jedes andere Versteck. Daher konnte er nicht begreifen, warum Dorothon und Quosimanga unbedingt die „Brutstätte des Zorns“ finden wollten. Allerdings versuchte er auch nicht, ihnen dies auszureden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Ort auf der Welt schlimmer sein könnte als ihr derzeitiger Aufenthaltsort mit den armseligen, halb vermoderten Hütten in den diesigen Schlammniederungen der Nebenflüsse des Tephral. So hoffte er auch weiterhin, dass der Weiße Mann und sein Sohn möglichst bald Anhaltspunkte entdecken würden, die sie zu ihrem eigentlichen Ziel führen konnten.

      Selbst Dorothon und Quosimanga litten unter dem Schmutz und dem ewig feuchten, ungesunden Klima, obgleich sie gegen Krankheiten jedweder Art gefeit waren. Der ehemalige Bewacher der Gruft benahm sich ungeduldiger als sein Vater und drängte darauf, notfalls auf eigene Faust weiterzuziehen und die „Brutstätte des Zorns“ auf gut Glück zu suchen. Dorothon lehnte dagegen grundsätzlich jedwede aus Verzweiflung geborene Entschlüsse ab und hoffte weiterhin, durch Eftian oder einen der anderen Flussfischer den entscheidenden Hinweis auf den gesuchten Zielort zu erlangen. Sein Standpunkt wurde jedoch immer schwerer zu verteidigen, nachdem auch Jalbik Gisildawain und der obesische Kutscher nachdrücklich für Quosimanga Partei ergriffen, wenngleich ihnen dieser Mann alles andere als sympathisch war.

      Dann erkrankte der Kutscher. Sein an die Trockenheit Süd-Obesiens gewöhnter Körper vertrug die dampfende Schwüle der schlammigen Flussniederungen am wenigsten von allen. Ein heftiges Fieber ergriff ihn. Trotz der warmen Temperaturen zitterte er vor Kälte. Dorothon und Eftian betteten ihn auf die hölzerne Liege der kargen Behausung, die ihm die Fischer zur Verfügung gestellt hatten. Nachdem der Weiße Mann den Obesier mit seiner Jacke zugedeckt hatte, verließ er die Hütte, um mit Quosimanga das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Eftian blieb bei dem Kutscher zurück, denn er wusste, dass dieser den Tag voraussichtlich nicht überleben würde. Das gefürchtete Tephral-Fieber raffte die Erkrankten, die es befallen hatte, in kürzester Zeit dahin. Da die „freien Menschen der Flüsse“ von Natur aus, eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen das tödliche Fieber besaßen, hatten sie es bisher nicht für nötig befunden, nach einem Mittel zur Bekämpfung der Krankheit zu forschen. Eftian betrachtete es als seine Aufgabe, seinen Gast mit Wasser zu versorgen und ihm die letzten Stunden zu erleichtern, so gut es eben unter diesen Umständen ging.

      In seinen Fieberträumen wälzte sich der in Schweiß gebadete Obesier stöhnend auf seiner Liegestatt hin und her. Dorothons Jacke fiel dabei zu Boden. Der Fischer hob sie wieder auf und legte sie erneut behutsam auf den Kutscher, der nun langsam zur Ruhe kam und nur noch leise wimmerte.

      Eftian stutzte. Auf dem Boden lagen zwei kleine, graue Kieselsteine, die sich zuvor dort nicht befunden hatten. Sie mussten aus Dorothons Jacke herausgefallen sein. Erstaunt hob er einen der Steine hoch. Weshalb trug der Weiße Mann zwei unscheinbare Kiesel mit sich herum? Eftian hielt den Stein gegen die Sonnenstrahlen, die durch das kleine Fenster ins Innere der Hütte fielen. Auf den ersten Blick konnte er nichts Besonderes feststellen. Erst als er den etwas kleineren Kiesel genauer betrachtete, fiel ihm das Blinken eines einzelnen, winzigen Lichtpunktes auf. Mit bloßem Auge konnte man ihn fast kaum erkennen.

      „Ich habe den Wächter des Großen Sumpfbaums gefunden“, erklang es in Eftians Kopf.

      Vor Schreck hätte der Fischer den Stein beinahe fallen lassen. Dann gewann er aber schnell seine Fassung zurück. Stimmen in seinem Kopf waren für ihn keine neue Erfahrung.

      „Wer bist du, und warum hast du nach mir gesucht?“, fragte er leise.

      „Ich bin eine verlorene Seele“, erscholl die Stimme erneut in Eftians Kopf. „Als ich noch einen Körper besaß, trug ich den Namen Lodrigur. Bald werde ich endgültig sterben. Seit einer geraumen Weile suche ich nach einem geeigneten Menschen, dem ich vor meinem Tod die Geschichte der Seelensteine erzählen kann.“

      Stumm konzentrierte sich der Flussfischer auf die unhörbaren Worte.

       „Ich wohnte auf einer Welt, die unvorstellbar weit von hier entfernt ist. Eines Tages wurde diese Welt von einem riesigen schwarzen Wirbel angesaugt und auf die Größe des Steins zusammengedrückt, den du nun in deiner Hand hältst. Dabei wurden alle Körper der Lebewesen dieser Welt zerstört. Ihre Seelen wurden jedoch in diesem Stein eingeschlossen. Vielleicht wären auch sie nur noch für die kurze Zeit erhalten geblieben, die ihrer restlichen Lebensspanne entsprochen hätte. Nachdem aber der schwarze Wirbel den Stein auf seiner entgegengesetzten Seite ausgespuckt hatte, wurde er von einem fremden Volk entdeckt, das mit Sternenfähren die unendlichen Weiten zwischen den Himmelskörpern bereist. Dieses Volk, das von seinen Geschöpfen auf dieser Welt „die Schöpfer“ genannt wird, hat unsere Seelen erhalten. Das geschah mit Hilfe von Kräften, die als „Lebensenergie“ bezeichnet werden. Ich weiß, dass du dir darunter nichts vorstellen kannst. Einige der Welten, die das gleiche Schicksal ereilte wie die meine, wurden ebenfalls in ihrer zusammengepressten Form hierhergebracht und im Wurzelbereich alter Bäume vergraben. Auf diese Weise haben die Schöpfer den alten Bäumen ermöglicht, den Seelen jener Welten eine Heimstatt zu geben. Die alten Bäume haben die Zeiten überdauert, weil sie die in kleinen Würfeln gespeicherte Lebensenergie empfangen konnten. Solange die Seelensteine bei ihren Bäumen geblieben sind, lebten sie mit den Seelen dieser Welt in Einklang. Sobald sie jedoch entfernt wurden, trat eine Störung des Gleichgewichts auf. Die Seelen in den Steinen haben dann versucht, die Körper ganzer Völker zu zerstören, um sich auf einer höheren Ebene an deren Seelen zu klammern und auf diese Weise die zu ihrem Fortbestand notwendige Energie zu erlangen. Das alles mag dir unverständlich erscheinen. Wichtig ist jedoch, dass nun für diese Welt eine Entscheidung getroffen werden muss: Wollt ihr weiterhin versuchen, die für euch fremden Seelen zu beherbergen und mit ihnen in Einklang zu leben, was für eure Entwicklung vorteilhaft, aber auch höchst gefährlich wäre? Oder soll nun alles zerstört werden, wie die Schöpfer dies vorgesehen haben? Das Werk der Vernichtung wurde bereits begonnen. Du kannst dich ihm entgegenstellen oder es geschehen lassen.“

      Eftian war erschüttert. Verzweiflung lag in seiner Stimme, als er flüsterte: „Ich bin doch nur ein völlig unbedeutender Fischer. Wie soll ich eine solche Entscheidung treffen?“

      Lodrigurs Antwort erfolgte jedoch sofort und unerbittlich: „Du bist ein Spiritant, und du bist keineswegs unbedeutend. In dir leben Generationen von Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Verhältnisse in dieser Welt zu verändern. Jeder Einzelne von ihnen ist an den widrigen Umständen seiner Zeit gescheitert und musste die hochfliegenden Pläne seiner Vorfahren begraben. Du bist nun der Erste, dem es tatsächlich vergönnt ist, eine Veränderung herbeiführen zu können, wie immer diese auch aussehen mag. Wer also könnte geeigneter sein als du, um die Entscheidung zu treffen, die getroffen werden muss?“

      „Der Blick meiner Vorfahren richtete sich allein auf Sindra“, wandte Eftian zögerlich ein.

      „Dann wirst du eben deinen Blick erweitern müssen“, entgegnete Lodrigur. „Auch ich musste das tun. Nachdem der Würfel ausgefallen war, der meinen Baum mit Lebensenergie versorgte, überlebte meine Seele bis jetzt durch eine eigene Energiequelle, die ich bei der Katastrophe zufällig an meinem Körper trug. Nun erlischt auch sie. Aber sie hat es mir ermöglicht, dich noch rechtzeitig zu finden. Sollte das alles umsonst gewesen sein?“

      Die Stimme erstarb. Als Eftian den kleinen Stein erneut gegen das Licht hielt, konnte er den winzigen, blinkenden Punkt nicht mehr erkennen. Traurig schob er die beiden zusammengepressten Welten, aus denen nun endgültig alles Leben gewichen war, wieder in Dorothons Jacke zurück. In der kleinen, armseligen Hütte wurde es ganz still. Ein kurzer Blick genügte Eftian für die Feststellung, dass der Kutscher aus Obesien nicht mehr atmete. Der Glanz in seinen Augen war erloschen. Eftian schloss ihm die Lider.

      Danach machte sich ein bettelarmer Flussfischer aus den Niederungen des Tephral auf den Weg,

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