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legte das Buttermesser weg und breitete die Arme aus. »Komm her.« Jake trat zu ihr, sie umarmte ihn und drückte ihre Wange gegen seine. »Ich weiß, dass das heute für keinen von uns leicht war. Abschied zu nehmen, ist nie leicht. Aber ich wollte dir sagen, was du während dem Gottesdienst gesagt hast… also, das war… wunderschön.« Sie ließ ihn los, ihre Lippen zuckten. »Abgesehen davon, dass du allen erzählt hast, dass Caleb nackt gebadet hat.«

      »Glaub mir, Mama, das wussten sie schon.« LaFollette war eine kleine Stadt.

      Sie warf ihm einen gespielt bösen Blick zu. »Nicht alle. Aber jetzt ganz bestimmt.« Mama küsste ihn auf die Wange. »Mach schon, verschwinde. Aber sei rechtzeitig zum Abendessen zurück.«

      Jake biss sich auf die Lippe. »Wenn sie uns denn was übrig lassen.«

      Das entlockte ihr ein Lachen. »Ich hab noch Makkaroni mit Käse in der Gefriertruhe. Ich denke, wir haben genug, um bis zur Endzeit durchzuhalten.« Sie nahm das Buttermesser in die Hand und machte sich wieder an die Arbeit. »Denk dran, was ich dir über spätes Nachhausekommen gesagt hab.«

      Er wartete nicht darauf, dass sie ihre Meinung änderte, sondern schnappte sich seine Jacke vom Haken neben der Hintertür. Dann trat er auf die Veranda hinaus und atmete die frische, kühle Luft tief ein.

      Gott sei Dank. In den letzten Stunden hatte er nur die Düfte verschiedener Parfüms eingeatmet, manche hatten stark nach Blumen gerochen, andere einfach nur intensiv. Dazu kam noch der berauschende Duft der Blumen, die Mama aus der Kirche mitgebracht hatte, daher hatte Jake es kaum gewagt, Luft zu holen.

      Er ging zum Ende des Hofs, bückte sich und kroch durch die Lücke im Zaun, dann bahnte er sich seinen Weg durch das dichte, bis zu seinen Oberschenkeln reichende Gebüsch, das auf beiden Seiten des Baches wuchs. Er erinnerte sich, dass er sechs oder sieben gewesen war, als Caleb ihn zum ersten Mal hierhergebracht hatte.

      Caleb, sein großer Bruder, der offiziell ein Teenager geworden war. Caleb, der vorangegangen war und Jake zum Lachen gebracht hatte, weil er mit einem imaginären Schwert auf das Gebüsch eingehackt hatte, als wären sie auf großer Abenteuerreise mitten in einem Dschungel.

      Gott, es fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen.

      Jake kletterte über die Stämme der Bäume, die im Frühjahr umgestürzt waren, und blieb stehen, als er beim Bach ankam. Das Wasser vor ihm floss langsam, hatte sich an manchen Stellen zurückgezogen und dort, wo der Bach ausgetrocknet war, hart gewordenen Schlamm hinterlassen. Der Bach lag im Schatten, die Bäume bildeten einen Baldachin darüber, durch den nur hin und wieder Sonnenlicht fiel, das auf dem Wasser glitzerte. Wenn er nach links ging, würde der Weg an der Kläranlage von LaFollette vorbei verlaufen und schließlich zum Ollis Creek Trail werden, der zum Stausee führte. Rechts käme er zum Wishing Seat.

      Über die Entscheidung musste Jake nicht weiter nachdenken. Er wandte sich nach rechts.

      Er dachte an das erste Mal, als Caleb ihm den großen Felsen neben dem Bach gezeigt hatte. Es war nur ein gewöhnlicher Felsbrocken, aber so hatte Jake ihn nicht gesehen. Oh nein. Caleb hatte auf eine Stelle in der Nähe der Spitze gezeigt, wo der Stein verwittert war und eine Delle formte, die gerade groß genug war, um darin zu sitzen. Er hatte Jake mit gedämpfter Stimme gesagt, dass das ein magischer Ort war.

      Jake konnte noch immer seine Stimme hören.

      »Denk dran, du darfst Mama und Daddy nicht sagen, dass ich dir das gezeigt hab, klar? Das ist ein geheimer Platz.«

      »Warum?« Jake hatte den grauen Stein ungläubig angestarrt. Es war nur ein Felsbrocken.

      Caleb hatte ihn hochgehoben und ihn beinahe ehrfürchtig auf die abgewetzte Stelle gesetzt. »Du sitzt auf dem Wishin‘ Seat. Alles, was du tun musst, ist, die Augen schließen und dir etwas wünschen und es geht in Erfüllung. Aber du musst daran glauben, wirklich daran glauben, denn wenn du es nicht tust, bekommst du nur einen tauben Arsch, weil du zu lange auf einem Fleck gesessen hast.« Jake hatte ihn mit offenem Mund angestarrt und Caleb hatte die Augen zusammengekniffen. »Und du wirst Mama oder Daddy nicht verraten, dass ich Arsch gesagt hab. Kapiert?«

      Als hätte Jake Caleb verpfiffen. Er verehrte seinen Bruder. Jake legte sich eine Hand aufs Herz. »Ich schwöre, ich werde nichts verraten.«

      Caleb hatte gelächelt. »Tja, na dann. Ich denke, es ist Zeit für deinen ersten Wunsch.«

      Jake hatte die Augen geschlossen und mit der völligen Sicherheit eines siebenjährigen Jungen ganz genau gewusst, was er sich wünschen würde. »Sage ich dir, was ich mir gewünscht habe?«

      »Oh Gott, nein. Das ist eine todsichere Art, einen Wunsch zu verschwenden. Du verrätst es niemandem, Murmelchen. Es ist dein Wunsch.«

      Jake öffnete die Augen und warf Caleb einen bösen Blick zu. »Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht so nennen.«

      Caleb lachte leise. »Awww, aber du bist mein kleines Murmeltier. Du bist so niedlich, wie du im Dreck unter der Veranda buddelst.«

      Jake störte der Spitzname nicht wirklich. Er gab ihm das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

      »Jetzt mach die Augen zu und wünsch dir was.«

      Wieder schloss Jake die Augen, fest entschlossen zu glauben und seinen Wunsch in die Welt hinauszuschicken.

      Ich möchte wie mein Bruder Caleb sein, wenn ich groß bin.

      Und mir nichts, dir nichts, befand sich wieder Jake in der Gegenwart, seine Hand ruhte auf dem vertrauten Felsen. Tränen stiegen ihm in die Augen und er sah nur verschwommen, als er hinaufkletterte. Er saß auf dem kalten, harten Stein und schloss die Augen.

      »Ich wünschte, du wärst hier, Caleb.«

      Kaum hatte er den Wunsch geflüstert, brach die Realität über ihn herein und er stöhnte laut, als er diese innere, monotone Stimme hörte, die so unglaublich hoffnungslos war.

      Es ist völlig egal, wie sehr du daran glaubst, das ist dir schon klar, oder? Caleb kommt nicht zurück.

      Jake zog die Beine an, legte den Kopf auf die Arme und weinte hemmungslos, ließ sich von seinem Kummer überwältigen. Als seine Tränen schließlich versiegten, fühlte er sich schwach und ausgelaugt. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes über die Augen, dann hob er den Kopf und sah auf den Bach hinaus.

      Was ihm in der Stille in den Sinn kam, war jedoch nicht sein Bruder, sondern Liam.

      »Ich weiß nicht, wo du bist, Cal, und ich hab verdammt noch mal keine Ahnung, ob du mich hören kannst, aber ich hab heute versucht, das Richtige für dich zu tun. Ich schwöre, als ich ihn da gesehen hab – der Kerl hat vielleicht Nerven –, da wollte ich ihn plattmachen, ihn zu Brei schlagen.« Er schluckte. »Ich schätze, ich hab mir nicht genug Mühe gegeben.« Sein Versagen fühlte sich wie Verrat an und Jakes Brust zog sich zusammen. »Es tut mir leid. Ich hab dich enttäuscht. Ich verspreche, wenn ich jemals wieder die Chance bekomme, wird er nicht ohne Schläge davonkommen.«

      Es fühlte sich wie ein Gelübde an, und das war für Jake in Ordnung.

      Liam hatte ihm seinen Bruder gestohlen, und zwar, als Jake ihn am meisten brauchte. So oft war er in den letzten zwei, drei Jahren kurz davor gewesen, Caleb anzurufen, aber er hatte jedes Mal den Mut verloren. Die wenigen Male, als Caleb zu Besuch kam, hatte Jake sich danach gesehnt, ihn hierher mitzunehmen, zu ihrem geheimen Platz, mit der Absicht, ihm sein Herz auszuschütten…

      Er hatte Calebs Rat so dringend gebraucht, und jetzt war es zu spät.

      Und das war nur Liams Schuld. Es war Jake egal, dass er auf dem Friedhof vielleicht ein klitzekleines bisschen überreagiert hatte. Im Nachhinein war klar, dass er nicht logisch gedacht hatte. Aber jetzt? Zum Teufel, hinterher war man immer klüger.

      Je mehr er über Liams plötzliches Erscheinen nachdachte, desto mehr trat sein Kummer in den Hintergrund, wurde durch die vertraute Wut ersetzt, die seit Calebs Tod allgegenwärtig war.

      Damit konnte Jake umgehen. Wut war besser als Trauer. Und anders als

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