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Trep­pe her­un­ter und rief: »Jo­han­na, höre doch!«

      Nein; sie woll­te nicht hö­ren, noch sich auch nur mit ei­ner Fin­ger­spit­ze be­rüh­ren las­sen. Sie stürz­te in den Spei­se­saal; sie floh vor ihm wie vor ei­nem Mör­der. Sie such­te einen Aus­gang, ein Ver­steck, ir­gend einen dunklen Win­kel, um ihm aus­zu­wei­chen. Sie kroch schliess­lich un­ter den Tisch. Aber schon öff­ne­te er, ein Licht in der Hand, die Türe, im­mer wie­der »Jo­han­na« ru­fend. Sie floh von Neu­em wie ein auf­ge­scheuch­ter Hase, stürz­te in die Kü­che, rann­te zwei­mal dar­in rings um­her wie ein ge­hetz­tes Wild; und als er ihr dort­hin nach­kam, öff­ne­te sie has­tig die Tür zum Gar­ten und flüch­te­te ins Freie.

      Die ei­si­ge Berüh­rung des Schnees, in dem sie mit ih­ren nack­ten Füs­sen oft bis an die Knie ver­sank, flöss­te ihr plötz­lich eine ver­zweif­lungs­vol­le Ener­gie ein. Trotz ih­rer Blös­se spür­te sie kei­ne Käl­te; sie emp­fand nichts mehr aus­ser der be­klem­men­den See­len­angst. Weiß wie der Bo­den selbst rann­te sie wei­ter. Sie ver­folg­te die ge­ra­de Al­lee, flüch­te­te durch das Bos­quet, sprang über den Gra­ben und rann­te auf die Hei­de.

      Der Mond war noch nicht zu se­hen; die Ster­ne glänz­ten am dunklen Him­mel wie Mil­li­ar­den klei­ner Lich­ter. Die Ebe­ne aber lag hell und klar vor ihr, schmut­zig weiß, starr und re­gungs­los in ewi­gem Schwei­gen.

      Atem­los rann­te Jo­han­na wei­ter, ohne zu über­le­gen, ohne zu wis­sen, was sie tat. Und plötz­lich fand sie sich am Rand der Küs­te. In­stink­tiv blieb sie hal­ten und kau­er­te sich nie­der; sie war nicht mehr Her­rin ih­res Wil­lens und ih­rer Ge­dan­ken.

      In dem fins­te­ren Dun­kel vor ihr ström­te das un­sicht­ba­re schweig­sa­me Meer sei­nen sal­zi­gen und mit dem Sumpf­ge­ruch des See­gra­ses ver­misch­ten Duft aus.

      Lan­ge kau­er­te sie dort, geis­tig und kör­per­lich wie ge­lähmt. Dann plötz­lich be­gann sie zu zit­tern, aber es war ein ei­gen­tüm­li­ches Zit­tern, wie bei ei­nem vom Win­de hin und her ge­zerr­ten Se­gel. Ihre Arme, ihre Hän­de, ihre Füs­se wur­den wie von ei­ner un­sicht­ba­ren Macht ge­schüt­telt; sie wur­den in hef­ti­gen Stös­sen hin und her ge­schwenkt. Plötz­lich kehr­te ihr Be­wusst­sein klar und deut­lich zu­rück.

      Bil­der aus der Ver­gan­gen­heit spie­gel­ten sich vor ih­rem Geis­te wie­der. Die­se Fahrt mit ihm im Boo­te des Papa Las­ti­que, ihre Plau­de­rei, die be­gin­nen­de Lie­be, die Tau­fe der Bark. Sie griff dann wei­ter zu­rück bis auf den selt­sa­men Traum der ers­ten Nacht in Peup­les. Und jetzt! ja jetzt? Ach! ihr Le­ben war ver­nich­tet, jede Freu­de zu Ende, jede Hoff­nung aus­sichts­los; vor ihr lag nur die furcht­ba­re Zu­kunft mit all ih­ren Qua­len, mit ih­rer Ent­täu­schung und Verzweif­lung. Lie­ber jetzt ster­ben! Dann war al­les zu Ende.

      »Hier, hier sind ihre Fuss­s­pu­ren; schnell, schnell hier­her!« hör­te sie plötz­lich eine Stim­me ru­fen. Es war Ju­li­us, der sie such­te.

      Ach! sie woll­te ihn nicht wie­der­se­hen. In dem Dun­kel vor sich hör­te sie jetzt ein leich­tes Geräusch, das un­be­stimm­te Rau­schen des Mee­res am Fus­se der Fel­sen.

      Sie er­hob sich, fest ent­schlos­sen sich her­ab­zu­stür­zen. Schon nahm sie Ab­schied vom Le­ben und seufz­te ver­zwei­felt das eine Wort al­ler Ster­ben­den, das eine Wort »Mut­ter«, mit dem der jun­ge Sol­dat in der Schlacht sein Le­ben aus­haucht.

      Plötz­lich trat ihr der Ge­dan­ke an ihr Müt­ter­chen vor die See­le. Sie sah sie schluch­zen, sah den Va­ter ver­zwei­felt vor ih­rer Lei­che kni­en, sie er­litt einen Au­gen­blick mit ih­nen zu­sam­men all ihr Leid und ih­ren Jam­mer.

      Da sank sie lang­sam rück­wärts in den Schnee. Sie rann­te nicht mehr fort, als Ju­li­us und Papa Si­mon mit Ma­ri­us, der eine La­ter­ne trug, her­bei­ka­men und sie bei den Ar­men grei­fend rück­wärts zo­gen; denn so nahe war sie schon am Rand des Ge­sta­des.

      Jene konn­ten mit ihr ma­chen was sie woll­ten; denn sie rühr­te sich nicht mehr. Sie fühl­te, wie man sie auf­hob, dann wie man sie auf ein Bett leg­te und mit war­men Tü­chern rieb. Sch­liess­lich schwand ihr jede Erin­ne­rung, je­des Be­wusst­sein.

      Dann quäl­te sie ein Alp­druck. War es wirk­lich ein sol­cher? Sie lag in ih­rem Zim­mer. Es war lich­ter Tag, aber sie konn­te nicht auf­ste­hen. Wa­rum nicht? Sie be­griff es nicht. Sie hör­te ein Geräusch auf dem Fuss­bo­den, ein Krat­zen, ein Ra­scheln und plötz­lich husch­te eine Maus, eine klei­ne graue Maus, ei­ligst über ihre De­cke. Bald folg­te eine zwei­te, eine drit­te, die sich mit ih­rem kur­z­en schnel­len Trip­peln auf ihre Brust zu be­weg­ten. Jo­han­na hat­te kei­ne Furcht; sie woll­te viel­mehr das Tier­chen er­grei­fen und streck­te die Hand aus. Aber es ge­lang ihr nicht.

      Dann ka­men noch mehr Mäu­se; zehn, zwan­zig, hun­dert, tau­send schie­nen aus dem Bo­den her­vor­zu­kom­men. Sie klet­ter­ten hau­fen­wei­se an den Ta­pe­ten em­por; sie be­deck­ten ihr gan­zes Bett. Bald dran­gen sie un­ter die De­cke. Jo­han­na fühl­te, wie sie über ihre Haut kro­chen, über ihre Füs­se husch­ten und an ih­rem Kör­per em­por­klet­ter­ten. Sie sah sie vom Fus­sen­de des Bet­tes nach ih­rer Keh­le zu vor­drin­gen; sie wehr­te sich ver­zwei­felt, ball­te die Hän­de, um eine zu er­grei­fen, aber ihre Hän­de blie­ben stets leer.

      Ent­setzt woll­te sie flie­hen, sie schrie, und es schi­en ihr, als ob man sie fest­hielt, als ob kräf­ti­ge Arme sie um­schlos­sen hät­ten; aber sie sah Nie­man­den.

      Sie hat­te kei­ne Ah­nung von der Zeit. Es muss­te lan­ge, sehr lan­ge ge­dau­ert ha­ben.

      Dann end­lich hat­te sie ein Er­wa­chen, ein lang­sa­mes Er­wa­chen, wie aus ei­nem to­ten­ähn­li­chen Schla­fe; aber im­mer­hin ein süs­ses Er­wa­chen. Sie öff­ne­te die Au­gen und war durch­aus nicht er­staunt, ihr Müt­ter­chen im Zim­mer mit ei­nem di­cken Herrn sit­zen zu se­hen, den sie nicht kann­te.

      Wie alt war sie ei­gent­lich? Sie wuss­te es nicht und hielt sich noch für ein ganz klei­nes Mäd­chen. Sie hat­te jede Erin­ne­rung ver­lo­ren.

      »Se­hen Sie, das Be­wusst­sein kehrt zu­rück!« hör­te sie den di­cken Herrn sa­gen. Und Müt­ter­chen be­gann zu wei­nen.

      »Nur ru­hig, Ma­da­me!« be­gann der di­cke Herr wie­der. »Ich ste­he jetzt für al­les ein. Aber sa­gen Sie nichts; spre­chen Sie von nichts. Wenn sie nur schlie­fe!«

      Und es schi­en Jo­han­na, als ob sie noch lan­ge so re­gungs­los da­ge­le­gen hät­te, von ei­nem tie­fen Schlum­mer be­fan­gen. Sie such­te sich auch gar nicht die Ver­gan­gen­heit ins Ge­dächt­nis zu­rück­zu­ru­fen, wie in ei­ner un­be­stimm­ten Furcht, die Wirk­lich­keit vor sich auf­tau­chen zu se­hen.

      Da, ein­mal, als sie er­wach­te, be­merk­te sie Ju­li­us ganz al­lein bei ihr; und plötz­lich kam ihr al­les ins Ge­dächt­nis zu­rück, als wenn ein Schlei­er ge­lüf­tet wor­den sei, der bis da­hin die Ver­gan­gen­heit be­deckt hat­te.

      Ein schreck­li­cher Schmerz durch­zuck­te sie und sie woll­te flie­hen. Sie streif­te die De­cke ab und sprang zum Bett hin­aus. Aber ihre Füs­se tru­gen sie nicht und sie fiel hin, Ju­li­us sprang hin­zu und sie be­gann zu heu­len, dass er sie nicht an­rüh­ren sol­le. Sie wehr­te sich und wälz­te sich auf dem Bo­den hin und her. Da öff­ne­te sich die Tür und Tan­te Li­son stürz­te mit der Wit­we Den­tu her­ein, ge­folgt von dem Baron und end­lich auch von der

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