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Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge«, schreibt Rothmund zur Klarstellung) und französische Elsässer, die in das unbesetzte Gebiet Frankreichs gelangen wollen. Am 20. August rechtfertigt Rothmund die neuen Weisungen vor dem Zentralkomitee des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Dessen Präsident hatte sich besorgt an ihn gewandt, nachdem er erschütternde Berichte über Einzelheiten der Deportationen aus Frankreich erhalten hatte. Die Landesinteressen seien maßgebend für den Entscheid gewesen, referiert Rothmund. Denn die Schweiz sei »hinsichtlich der Juden eine Insel in Europa«. Aber man dürfe sich nicht »überlüpfen«. Noch nichts sei ihm so schwergefallen wie der Erlass vom 13. August. Es sei ihm wohlbekannt, dass Hunderttausende von Juden in Gefahr seien und dass Millionen von anderen Menschen sich in Gefahr fühlten. Die Schweiz aber sei außerstande, alle Geflüchteten aus den Nachbarländern aufzunehmen. »Besser wir sorgen für diejenigen, die bei uns sind, und suchen sie durchzuhalten.« Rothmund, angesprochen auf die »Scheußlichkeiten«, die sich bei den Deportationen ergaben, behauptet weiter, deutsche Kommissäre an der Grenze hätten ihm versichert, den Zurückgewiesenen geschähe nichts, man veranlasse sie lediglich zur Arbeit. Möglicherweise drohe eine spätere Deportation. Da aber der Zustrom immer größer werde, habe man nicht länger zuwarten können. Bundesrat Eduard von Steiger spricht in einer Rede am 30. August vom »vollen Rettungsboot«.

      21 Schülerinnen der Sekundarklasse 2c in Rorschach protestieren am 7. September 1942 in einem Brief an den Bundesrat, »dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in ihr Elend zurückstößt. Habt ihr eigentlich ganz vergessen, dass Jesus gesagt hat, ›was ihr einem der Geringsten unter Euch getan habt, das habt ihr mir getan?‹ Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, die Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zitternden, frierenden Jammergestalten wie Tiere über die Grenze wirft.«

      In der Herbstsession des Nationalrats wird von Steiger am 22. September deutlicher: Der »Massenandrang« aus Frankreich habe eingedämmt werden müssen. Wollte man diesen »Schwarzeinreisen« nicht begegnen, so käme man bei einem Tagesdurchschnitt von sechzig Personen auf 22’000, während der Bundesrat immer die Ansicht vertreten habe, »eine Zahl von 6000 bis 7000« stelle ungefähr das dar, was »gerade noch tragbar« sei. Das Asylrecht wird in der Wegleitung, die der Bundesrat erlässt, als »Recht des Staates im Geiste der schweizerischen Überlieferung frei und unabhängig ausgeübt, als Gebot der Menschlichkeit, aber nicht als rechtliche Pflicht«. Die Behörden hätten die Pflicht, »auch bei grundsätzlicher Hochhaltung des Asylgedankens durch geeignete Maßnahmen den Zustrom in tragbaren Grenzen zu halten, auch wenn dabei heimlich eingereiste Flüchtlinge wieder zurückgeschickt werden müssen«. Das Votum von Nationalrat Albert Oeri, es sei nicht zu rechtfertigen, »gleichsam auf Vorrat, das heißt aus Furcht vor dem, was noch geschehen könne, grausam zu sein«, geht im zustimmenden Kanon der Parlamentsmehrheit unter. In der Bevölkerung sind die Maßnahmen umstritten, auch in der Presse häufen sich die kritischen Stimmen. »Wir fühlen uns durch die andernortes an diesen Menschen begangenen Verbrechen erst recht gedrängt, ihnen Taten der Menschlichkeit entgegenzusetzen«, kommentiert die Thurgauer Zeitung diese Flüchtlingspolitik. Am 26. September wird der Erlass etwas aufgeweicht. Danach gelten als Härtefälle, denen Aufnahme zu gewähren sei, unter anderen auch allein reisende Kinder unter 16 Jahren. Durchsetzen lassen sich diese harten Bestimmungen nur bedingt, weil es einerseits an Personal mangelt und anderseits das Gebot der Menschlichkeit viele Zoll- und Polizeiorgane milde handeln lässt. Wer es einmal ins Landesinnere geschafft hat, wird in aller Regel nicht mehr zurückgeschickt.

      Das Rorschacher Sekundarschulmädchen Heidi Weber, das den Protestbrief an den Bundesrat verfasst hatte, wird am 23. Oktober auf Geheiß des Bundesrats vom Rorschacher Schulratspräsidenten »verhört«. Heidi nimmt Stellung zu ihren Beweggründen, nimmt ihren Lehrer in Schutz, der vom Brief zwar gewusst, diesen aber nicht gelesen habe, und wird schließlich in die Rolle des naiven Mädchens gedrängt, das gar nicht wissen könne, was es da tue. Ein Passus im Brief, in dem davon die Rede ist, es könne ja sein, dass der Bundesrat den Befehl erhalten habe, keine Juden mehr aufzunehmen, was überall zu hören sei, wird ihr als »schwere Beleidigung« ausgelegt, gegen die sich der Bundesrat zu Recht beklage. »Denn es ist ein starkes Stück, dass da ein paar junge, unerfahrene Mädchen, die kaum wissen, was überhaupt für das Leben notwendig ist, glauben, dem Bundesrat in Bern Lehren erteilen zu müssen, diesen Männern, die Tag und Nacht arbeiten, die sich keinen Feierabend, keinen Sonntag, überhaupt kaum Ruhe gönnen, die dafür sorgen, dass ihr Realschülerinnen ruhig und sicher wohnen und zur Schule gehen könnt …«

      Bis Ende Dezember 1942 steigt die Zahl der Geflüchteten in der Schweiz auf 16’200, von denen mehr als die Hälfte zwischen dem 1. August und dem 31. Dezember 1942 eingereist sind. Die Grenzschließung lässt sich nicht vollständig durchsetzen. Die Weisungen werden am 29. Dezember deshalb wieder verschärft. Neu gilt ein Gebietsstreifen von zehn bis zwölf Kilometern als »Grenzgegend«, aus dem Geflüchtete von den Grenzorganen »zurückzuweisen« seien.

      Hugo Remund, seit 1941 Chefarzt des SRK, setzt ab 1942 eine neue Doktrin des Bundesrats um, wonach die Arbeit der privaten, von mehreren Hilfswerken getragenen »Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder« zur Staatsaufgabe werden soll. Gleichzeitig will die Regierung sich mit den fremden Federn des 1940 gegründeten Hilfswerks schmücken, das seit Kriegsausbruch mit großem Engagement in Vichy-Frankreich mehrere Flüchtlingsheime, unter ihnen auch Schloss de la Hille, betreibt. Rösli Näf leitet das Heim seit Mai 1941. Es kommt, von Remund orchestriert, am 1. Januar 1942 zur Fusion zum »Schweizerischen Roten Kreuz, Kinderhilfe«. Remund wie Haller achten peinlichst genau darauf, dass dieses Liebeswerk im engen Rahmen der bundesrätlichen Vorgaben bleibt, die die Staatsräson vor die Mitmenschlichkeit stellen.

      Heimleiterin Rösli Näf, die 1989 für ihren Mut und ihre Menschlichkeit als eine von 46 Schweizerinnen und Schweizern mit einem Eintrag auf der israelischen »Liste der Gerechten unter Völkern« geehrt wird, kostet der Vorfall um die Gruppe mit Inge Joseph ihre Stelle in Frankreich. Ein missliebiger Kollege denunziert sie und tritt damit eine Untersuchungslawine los, die schließlich zu ihrer Versetzung in die Schweiz im Mai 1943 führt. Nach dem Krieg zieht sie, enttäuscht von der Schweizer Flüchtlingspolitik, nach Dänemark und kehrt erst im Pensionsalter in die Schweiz zurück. In einem unterwürfigen Brief, einem erschütternden Dokument mangelnder Zivilcourage, entschuldigt sich Hugo Remund, Chefarzt des Schweizerischen Roten Kreuzes, beim längst gleichgeschalteten Deutschen Roten Kreuz für den Vorfall, obwohl er weiß, dass dieser selbst von den französischen und deutschen Grenzbehörden unter den Teppich gekehrt worden war. »Es liegt mir daran, Sie von der peinlichen Lage in Kenntnis zu setzen, in der sich das Schweiz. Rote Kreuz durch die unangebrachte Initiative der Leiterin dieses Heims versetzt fühlt. Ich glaube, dass ich Ihnen nicht zu versichern brauche, dass die infrage stehenden Personen entgegen den Weisungen, welche sie vom Schweiz. Roten Kreuz erhalten hatten, gehandelt haben und dass das Schweiz. Rote Kreuz sich von der Handlungsweise der oben genannten Person völlig distanziert.«

      In Château de la Hille geht das Leben 1943 für die verbliebenen Kinder und Jugendlichen unter immer schwierigeren Bedingungen weiter. Jederzeit ist mit neuen Deportationen zu rechnen. Einige der Jugendlichen sind in der Umgebung untergebracht, auf dem Schloss hat man ein mündliches Alarmsystem abgesprochen, für den Notfall wird ein Versteck im Zwiebelkeller vorbereitet. Walter Strauss, der kurz zuvor seinen 18. Geburtstag gefeiert hat, wird trotz dieser Vorkehrungen zusammen mit vier weiteren Jugendlichen am 14. Februar nach einem hinterlistigen Täuschungsmanöver französischer Polizisten festgenommen und in ein Deportationslager gebracht. Ein Brief erreicht eine Woche später Inge Joseph, vermutlich aus einem Deportationszug geworfen. Er sei im Frieden mit sich selbst, seit er entschieden habe, »zu bleiben«. Ein zweiter Brief kommt Ende Mai 1943 aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek bei Lublin in Polen. Es ist Walters letzte Nachricht: Er sei bei »bester Gesundheit«. Inge, die Walter gut kennt, geht davon aus, dass er, um den Brief durch die Zensur zu bringen, das eine geschrieben hat – aber das andere meint. Später erfährt sie von einer Schweizer Rotkreuz-Helferin, er habe ihr Angebot, die Gruppe in Rotkreuz-Kleidung aus dem Lager zu schleusen, abgelehnt. Er werde nicht nochmals das Leben anderer riskieren. Inge Joseph, die durch das Fenster der Freiheit geschritten ist, wird ihren Freund, der dieses Fenster geschlossen hat, nie wiedersehen.

      Inge

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