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Mehr und mehr jugendliche Geflüchtete beenden die obligatorische Schule, und im Dezember 1942 erlaubt der Bundesrat diesen, eine Lehre zu machen. Die Berufswahl bleibt beschränkt auf manuelle Berufe, und bei weitem nicht alle finden eine Lehrstelle. Vor allem junge Frauen kommen zu kurz. Das ändert sich erst, als das ursprünglich aus Russland stammende Hilfswerk »Organisation, Reconstruction, Travail« in der Schweiz Wurzeln fasst. Aaron Syngalowski, Vizepräsident der Union, war 1941 aus Frankreich in die Schweiz geflohen. Nach dem Grundsatz »Selbsthilfe durch Arbeit« baut Syngalowski ab Herbst 1943 ein breit angelegtes Schulungsprogramm auf mit 43 Institutionen, von der Kinder- bis zur Produktionswerkstatt, die eine Ausbildung mit Fachprüfung anbieten. Mehr als 3000 der bis 1945 insgesamt Beschulten sind Jugendliche.

      Es ist bitterkalt, als die 17-jährige Inge Joseph in der Nacht vom 6. auf den 7. Januar 1943 aus dem Toilettenfenster einer deutschen Polizeistation beim französischen Annemasse nahe der Schweizer Grenze springt und damit ihr Leben rettet. Noch Jahrzehnte später wird sie sich fragen, weshalb sie nicht bei ihren jüngeren Begleitern geblieben war, für die sie sich verantwortlich fühlte. Die jüdischen Jugendlichen hatten gemeinsam die rettende Schweiz erreichen wollen und waren den Deutschen in die Hände gefallen. Eine Antwort wird sie zeit ihres Lebens nicht finden. Adele Hochberger, Inge Helft und Manfred Vos werden in ein Vernichtungslager in Osteuropa, wahrscheinlich Auschwitz, deportiert und in der Gaskammer ermordet. Inges Freund Walter Strauss, der der Gruppe vorausgegangen war, um den Weg zu erkunden, wird in dieser Nacht auch erwischt. Er hat Glück und wird von französischen Polizisten verhaftet, die ihn nicht an die Deutschen ausliefern.

      Den minderjährigen Juden aus Deutschland und Österreich hatte die Deportation aus einem von der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes betriebenen Heim im Château de la Hille in der Nähe von Toulouse in Südwestfrankreich gedroht. Deshalb wollten sie in die Schweiz fliehen. Sie haben es schon fast geschafft und den sicheren Schweizer Boden erreicht, doch dann verlaufen sie sich im Schneegestöber und kehren, ohne es zu merken, nach Frankreich zurück, wo sie erwischt werden. Die Abmachung, sich bei der Befragung als verirrte Genfer Spaziergänger auszugeben, hält nicht lange. Schon bald sind sie enttarnt. Nur Inge bleibt hartnäckig bei ihrer Version, selbst als sie mit ihrem Namen konfrontiert wird. Der deutsche Offizier, der sie verhört, eröffnet ihr daraufhin, sie werde am nächsten Morgen vor ein Erschießungskommando gestellt. Sie hat mit ihrem Leben schon abgeschlossen, als sie das halboffene Toilettenfenster entdeckt.

      Inge Joseph schafft es bei einem zweiten Fluchtversuch am späten Abend des 8. Januar 1943 doch noch in die Schweiz. Sie wird von Soldaten angehalten, die sie auf einen Polizeiposten bringen. Inge wird befragt: Name, Alter, Familie, Herkunft. Nach einem kurzen Telefonat mit einer höheren Dienststelle wird ihr eröffnet, sie müsse zurück nach Frankreich. Sie sei zu alt. Dabei hatte Inge Joseph, geboren am 19. September 1925 in Darmstadt, sich bei der Befragung um ein Jahr jünger gemacht, um sicher als minderjährig durchzugehen. Sie weiß von einer in der Schweiz seit dem 26. September 1942 geltenden neuen Regel, dass minderjährige Juden auf der Flucht nicht älter als 16 Jahre sein dürfen, um Aufnahme zu finden. Doch der Stichtag ist der 16. Geburtstag, nicht das von ihr angegebene Alter von 16 Jahren.

      Das Schweizer Boot ist voll. Inge Joseph ist zum Jahresbeginn 1943 zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Und dann doch an der richtigen Stelle. Der Polizeibeamte, der sie an der Grenze begleitet, serviert ihr noch einen warmen Tee in seinem Haus und sorgt dafür, dass sie nicht in deutsche Hände gerät. Der französische Grenzwächter, der sie am Schlagbaum in Empfang nimmt, erklärt ihr, sie habe nichts zu befürchten. Sie werde nach ein paar Tagen in französischer Haft freigelassen. Sie sei noch nicht 18 Jahre alt und damit zu jung, um härter bestraft zu werden, und zu jung, um den Deutschen übergeben zu werden. Im Gefängnis trifft sie ihren Freund Walter Strauss. Gemeinsam kehren sie ins Schloss de la Hille zurück, ihr südwestfranzösisches Refugium seit bald eineinhalb Jahren. Dort sind sie in trügerischer Sicherheit. Denn die »Endlösung«, der Völkermord an den europäischen Juden, ist auch im von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich in vollem Gange.

      Rückblende: Am 10. Mai 1940 marschieren deutsche Truppen in Belgien ein. Inge Joseph lebt zusammen mit weiteren minderjährigen jüdischen Geflüchteten aus dem Deutschen Reich in einem Waisenhaus in Brüssel. Belgien hat mehrere hundert jüdische Kinder und Jugendliche nach der »Reichskristallnacht« im November 1938 aufgenommen. Ihr Vater sitzt in Deutschland im Gefängnis, verurteilt, weil er auf legalem Weg versucht hatte, mit seiner Familie in die USA zu gelangen. Sein Wort wird ihm solange im Mund verdreht, bis daraus ein Straftatbestand wird. Inge Joseph ist zunehmend verzweifelt, eine Mitbewohnerin hindert sie in letzter Sekunde vor dem Sprung aus dem dritten Stock. Am 14. Mai, kurz vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Brüssel, werden die jungen Bewohner des Waisenhauses evakuiert, in letzter Minute gelingt in einem Konvoi die Flucht aus Belgien, und weiter vor der vorrückenden Wehrmacht bis nach Südfrankreich, das nach dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 und dem deutschen Diktatfrieden als Vasallenstaat Deutschlands formell unabhängig bleibt. Auch in Vichy-Frankreich ist die Not groß. In die Internierungslager, die 1939 für Geflüchtete des spanischen Bürgerkriegs eingerichtet worden sind, werden nun auch aus Deutschland und Österreich deportierte Juden eingesperrt. Die Bedingungen sind katastrophal. Die »Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder« (die Vorläuferorganisation des Schweizerischen Roten Kreuzes, Kinderhilfe) leistet Hilfe an allen Ecken und Enden. Sie mietet im September 1940 das seit Jahren verlassene Schloss de la Hille, um darin jüdische Geflüchtete unterzubringen. Zu ihnen zählt auch die hundertköpfige Gruppe aus Brüssel, die nach Monaten der Flucht und Ungewissheit ab Mai 1941 hier ein neues Zuhause findet. Die Älteren haben zuvor bei den Umbauarbeiten mitgeholfen.

      In Château de la Hille leben die Kinder und Jugendlichen weitgehend unbehelligt, bis das Vichy-Regime auch im unbesetzten Frankreich die Deportationszüge rollen lässt. Im August 1942 gelingt es, dank des mutigen Einsatzes der Heimleiterin Rösli Nef, mit allerletzter Not die Deportation von vierzig Jugendlichen über 15 Jahren zu verhindern. Sie kann die Gruppe, die bereits abgeholt und in das Internierungslager Les Vernets überstellt worden ist, nach einer Intervention bei Verantwortlichen der Vichy-Regierung aus dem Lager retten. Alle wissen, was die Jugendlichen erwartet hätte: Zwangsarbeit oder Tod. Näf setzt nun alle Hebel in Bewegung, um in Bern eine Aufnahme der Bedrohten zu erwirken. Der Exekutivrat der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes, das die Heime in Frankreich betreibt, schlägt dem Bundesrat vor, »eine bestimmte Anzahl« Kinder aufzunehmen. Der Diplomat Edouard de Haller soll als Mitglied des Exekutivrats und Delegierter des Bundesrats darüber wachen, dass das humanitäre Engagement mit der Schweizer Neutralität im Einklang steht. Er meint, es wäre bedauerlich, wenn der Eindruck entstehe, »das Schweizervolk und das Schweizerische Rote Kreuz ließen sich vom Gefühl des Mitleids leiten, während der Bundesrat sich widersetze«. Außenminister Marcel Pilet-Golaz macht den Vorschlägen, fünfhundert jüdische Kinder dauerhaft aufzunehmen und einigen Tausend vorübergehend den Aufenthalt zu gewähren, um ihnen eine Weiterreise in die USA zu ermöglichen, am 15. September 1942 ein rasches Ende. »Ich bin weder mit der einen noch der anderen Lösung einverstanden«, schreibt er von Hand auf ein Memorandum von de Haller. Der Wirbel »rund um dieses Problem« werde »je länger, je gefährlicher«. Es steht außer Frage, dass sich die damaligen Verantwortlichen bewusst waren, welches Schicksal die Verfolgten in Frankreich erwartete. Vergeblich. Rösli Näf und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter mobilisieren nun, wie andere informelle Zirkel, ihr Netzwerk an Fluchthelferinnen und Fluchthelfern. Sie bringt einige der Jugendlichen auf abgelegenen Höfen in der Region unter und schickt andere in kleinen Gruppen los, ihren Weg in die Schweiz oder nach Spanien zu finden. Zehn schaffen es über die Schweizer Grenze. Sie kommen bei Pateneltern unter. Fünf Jugendliche verschwinden spurlos, acht tauchen in Lyon unter, um sich der Résistance anzuschließen. Insgesamt, schätzt der Historiker Jacques Picard, gelingt rund 1300 Kindern und Jugendlichen in diesen dramatischen Monaten die Flucht in die Schweiz.

      Das Schweizer Boot ist voll, wie die Situation im »Bericht der Polizeiabteilung zum Flüchtlingsproblem vom 30. Juli 1942« zum ersten Mal umschrieben wird. Am 13. August 1942, als zahlreiche von der Deportation bedrohte jüdische Geflüchtete aus Frankreich einen sicheren Hafen in der Schweiz suchten, erlässt Heinrich Rothmund, der Chef der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, nach einem Beschluss des Bundesrats vom 4. August neue Weisungen.

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