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kaum mehr selber sprechen. Seine Enkelin, die damals 19-jährige Naara Appel, lieh ihm ihre Stimme. Auf die Frage nach den Auswirkungen seiner Kindheit auf sein heutiges Leben antwortete er: »Seid nachsichtig miteinander und genießt das Leben.« Es war sein letzter öffentlicher Auftritt.

      »Ich lebe gleichzeitig in zwei Welten«

      »Von Assimilation hat man früher in der Schweiz gesprochen, wenn es um Ausländer ging, die sich dauerhaft niederließen. Gemeint war damit die praktisch vollständige Aufgabe jeglicher Identität aus der alten Heimat, und das eigentliche Ziel, die Schweizer Staatsbürgerschaft, war nur für jene zu erreichen, die zu dieser absurden Selbstenteignung bereit waren. Ich war es nicht, und ich hatte zu meinem Glück auch immer Fördererinnen und Förderer, die mir unabhängig von meiner Herkunft beistanden und mir berufliche Wege ermöglichten, die mir eigentlich verschlossen sein sollten. Als griechisches Waisenkind zählte ich 1949 zur ersten Generation, die im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen Aufnahme fanden, um hier zur Schule zu gehen und eine Berufslehre zu machen. Danach hätte ich wie alle anderen zurückkehren sollen. Das war die Bedingung der Eidgenössischen Fremdenpolizei von 1944, als Walter Robert Corti die Idee von einem internationalen Kinderdorf für Kriegswaisen aus ganz Europa publizierte. Doch ich strebte nach einer höheren Bildung, und diese wurde mir tatsächlich ermöglicht. Ich studierte Physik an der ETH und blieb in der Schweiz.

      Meine Aufenthaltsbewilligung wurde jährlich erneuert. Nach zwanzig Jahren, zehn davon im Kanton Zürich, wies mich eine Verwaltungsangestellte darauf hin, dass ich mich nach geltendem Ausländerrecht um die Niederlassung und danach um die Schweizer Staatsbürgerschaft bewerben könne. Das tat ich dann auch. Der zuständige Beamte der Stadt Zürich vertröstete mich jahrelang, genoss aber sehr seine Allmacht, indem er demonstrativ beim routinemäßigen Gespräch mein Dossier, das jeweils schon ganz oben am Stapel lag, herausnahm, um es dann ganz unten wieder einzufügen. Ich müsse noch warten, beschied er mir, natürlich ohne jede Begründung. Es war die reine Willkür. Und es war klar, dass die Verweigerung der baldigen Einbürgerung mit meinem politischen Engagement gegen die Militärdiktatur in Griechenland zu tun hatte. Wäre ich gegen eine linke Diktatur engagiert gewesen, so hätte dies meine Einbürgerung beschleunigt. Aber in Griechenland herrschte eine von der NATO unterstützte rechtsextreme Militärdiktatur. Jeglicher Widerstand wurde blutig niedergeschlagen, die Gefängnisse waren überfüllt mit politischen Gefangenen. Der zivile Widerstand eines Griechen, der seit seinem neunten Lebensjahr in der Schweiz lebt und sich nun um die Schweizer Staatsbürgerschaft bewirbt, war offensichtlich in jener Zeit des Kalten Kriegs Grund genug für politische Missverständnisse in den Beamtenköpfen, um so mein Anliegen auf Einbürgerung auf die lange Bank zu schieben. Ich hätte politischen Verrat an meiner Heimat, aber auch an meinem Schweizer Demokratieverständnis begehen müssen, um schneller Schweizer zu werden. Es gab trotzdem auch Schweizer, die gerade meinen Kampf um die Rückkehr der Demokratie in Griechenland als Beweis für eine genügende Integration in der Schweiz und in ihr politisches System ansahen.

      Damals sprach der Philosoph Theodor W. Adorno von der Notwendigkeit einer Entbarbarisierung der Schulen. Denn Europa habe es nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs verpasst, Nationalismus, Intoleranz und Kulturchauvinismus zu überwinden. Er plädierte für eine wertfreie Schule, die allen dieselbe Möglichkeit verschaffe, sich zu entfalten. Ich habe mich später in meiner Tätigkeit als Kantonsschullehrer sehr für eine Schule engagiert, die diese Spaltung für die Ausländer der zweiten Generation verhindert, die es ihnen erlaubt, unverkrampft in beiden Kulturen zu Hause zu sein. Damals ging es unter anderem um einige Unterrichtsstunden in der Muttersprache im Stundenplan der offiziellen Primarschulen, als Anerkennung des Rechts auf kulturelle Gleichberechtigung. Es war ein Anfang. Und auch wenn sich seither viel getan hat, zweifle ich, ob wir auf der politischen Bühne wirklich viel weiter gekommen sind. Denn im Kern geht es doch darum, von den ausländischen Mitbürgern nicht nur zu verlangen, sich zu integrieren, sondern dies auch im Geiste unserer Verfassung zu tun, die gerade die kulturelle Vielfalt zum Maßstab der Gesellschaft macht. Dann sprechen wir nicht mehr von einem Ausländer-, sondern von einem Minderheitenproblem mit ganz anderen Lösungsansätzen. Dazu zählt unter anderem auch die Teilnahme an der Entscheidungsfindung, im Klartext: Es geht um die Bürgerrechte. Sie müssen das Ziel der Integration sein. Integration bedeutet für mich deshalb, diese Bürgerrechte nicht nur zu kennen, sondern sie auch auszuüben. Voraussetzung dafür ist es, sich mit der Politik seiner neuen Heimat praktisch auseinanderzusetzen. Eine wahre Integration kann sich nicht nur auf theoretische Kenntnisse elementarer Gepflogenheiten oder der Landessprache alleine beschränken. Bürgerrechte bedingen auch die Ausübung der Bürgerpflichten.

      Ich habe den Schweizer Pass 1973 schließlich doch noch erhalten. Es war für mich auch aus einem ganz anderen Grund eine vitale Frage: Da mein griechischer Pass aus Schikane der Diktatoren seit Jahren nicht mehr verlängert wurde, konnte ich erst jetzt wieder frei reisen. Ich lebe nun gleichzeitig in zwei Welten und in zwei Kulturen: in Griechenland, wo ich geboren bin, wo meine Verwandten leben, und in der Schweiz, dem Land, das mich in kritischer Zeit aufgenommen und mir dieses zweite Leben ermöglicht hat. Es ist nicht unbedingt immer einfach – aber ich möchte keine dieser zwei Welten missen.«

      Argyris Sfountouris, geboren 1940 in Distomo, Griechenland, überlebte mit seinen drei Schwestern und den Großeltern als Vierjähriger das Massaker einer Einheit der deutschen Waffen-SS in seinem Heimatdorf, bei dem seine Eltern und viele Verwandte ermordet wurden. 1949 wurde er in die Schweiz ins Kinderdorf Pestalozzi in Trogen aufgenommen, er erwarb die Maturität, wurde später Physiklehrer und Entwicklungshelfer. Er schrieb Gedichte, Essays und Zeitungsartikel und übersetzte moderne griechische Lyrik ins Deutsche. 1994, zum 50. Jahrestag des Massakers, organisierte er eine internationale »Tagung für den Frieden« in Delphi. Später reichte er mit seinen Schwestern verschiedene Klagen in Deutschland ein zur Entschädigung der Opfer und löste damit eine bis heute andauernde Debatte über Kriegsschuld und Verantwortung aus.

      Stefan Haupt im Dokumentarfilm Ein Lied für Argyris (2006) und Patric Seibel im Buch Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals (2016) haben seine Lebensgeschichte erzählt.

      »Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger«

      Die Aula des Gymnasiums am Münsterplatz ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Basel und Lörrach haben sich versammelt. Vorne sitzt Shlomo Graber, ein alter, leicht gebückter Mann mit schlohweißem Haar und wachem Blick. Er wohnt nur einen Steinwurf entfernt. Graber, der bis zur Deportation nach Auschwitz 1944 mit seiner Familie in Ungarn gelebt hatte, spricht in einem weichen Deutsch mit jiddischem Akzent. Mit klarer, nie brechender Stimme erzählt er eine Dreiviertelstunde vom Grauen des Vernichtungslagers, von seiner Mutter und den Geschwistern, die sich vor seinen Augen an sie klammerten, als sie an der Rampe ins Gas geschickt wurden, von seinem Vater, der mit ihm zur Zwangsarbeit nach Görlitz deportiert wurde, wo sie unter entsetzlichen Bedingungen überlebten, und von der jungen deutschen Mutter in der nach Kriegsende praktisch menschenleeren Stadt Görlitz, mit der er sein Brot teilte, weil er, wie er sagt, »nicht hassen wollte«.

      Nein, sein Überleben sei weder Schicksal noch Gottes Fügung gewesen, antwortet Graber auf die klugen Fragen der jungen Leute, deren Generation man doch so gern nachsagt, sie sei oberflächlich und desinteressiert. »Ich habe entschieden, mir selbst zu helfen, und so habe ich überlebt.« Er sei streng orthodox erzogen worden. In dieser Welt nahe am Aberglauben habe schon das Fallenlassen eines heiligen Gegenstandes genügt, um einen Tag des Fastens einzulegen. »Als den Juden in unserem Dorf befohlen wurde, das Nötigste zu packen, hat ein gläubiger Jude ein heiliges Gebetstuch eingepackt. Als ein SS-Offizier dies sah, riss er es ihm aus der Hand und warf es auf den Boden. Nichts geschah weiter. Da habe ich zu meinem Vater gesagt: Es kann keinen Gott geben, wenn er das zulässt.« Er sei später aus Tradition regelmäßig in die Synagoge gegangen. Aber die Entscheidung, welchen Glauben seine Kinder annehmen wollen, habe er ihnen überlassen. »Jeder Mensch soll nach seiner Religion leben.«

      Drei Jahre hat Shlomo

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