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betreut. Von meiner Mutter sind mir aus diesen Jahren nur die langen Streitereien mit meiner Großmutter in Erinnerung geblieben, die nicht für unsere Ohren bestimmt waren. Aber wir lebten auf engem Raum. In den Kriegsjahren ging es uns vergleichsweise gut, wir hatten dank unseres Gartens genug zu essen, und die von den schweren Erschütterungen der Bombardements geprägten vielen Stunden im Keller verbrachte ich auf Omas Schoß. Mein Bruder quietschte fröhlich, wenn Wände und Decken zitterten. Dabei hatten wir noch Glück. Die Bomber zielten auf das Feuerwehrhaus in dem Vorort, in dem wir lebten. Berlin, das ich trotz der kurzen Entfernung kaum kannte, wurde viel heftiger bombardiert.

      Nach dem Krieg wurde es schwieriger. Es fehlte an allem, vor allem aber an Nahrung. Ich weiß nicht, ob wir über die Runden gekommen wären, hätten uns nicht regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln aus der Schweiz erreicht. Die Familie Fick aus St. Gallen schickte sie. Sie hatten uns nicht vergessen aus der Zeit der Vorkriegsjahre, als der Textilkaufmann Ernst Fick regelmäßig in Berlin weilte und dabei an einem Badesee Bekanntschaft mit meiner Mutter schloss. Er hatte sich in sie verguckt, machte ihr aber keine Avancen, als er erfuhr, dass sie schon in festen Händen war. Sie wurden Freunde, und Ernst Fick ging bei ihr und meiner Oma ein und aus, wenn er in Berlin war. Er unterstützte jüdische Familien, deren Schmuck und Wertgegenstände er in die sichere Schweiz brachte. Oma und er musizierten gerne zusammen. Im Krieg riss dieser Kontakt gezwungenermaßen ab. Als Fick nach dem Krieg vorschlug, er nehme mich und meinen Bruder für je ein halbes Jahr in die Schweiz auf, schlugen Mutter und Großmutter rasch ein. Es ging uns sehr schlecht, der Alltag war zum Überlebenskampf geworden, auch Vater war damals noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Die Eltern waren schon geschieden. So kam ich für ein halbes Jahr in die Schweiz, und als ein Jahr daraus wurde, machte es mir gar nichts aus.

      Ich war wohlbehütet in einer kinderlosen, wohlhabenden Familie. Meine Mutter sei schwer krank, sagte man mir, und kurz darauf wurde mir mitgeteilt, sie sei gestorben. Da war ich sieben Jahre alt. Es vergingen nochmals sieben Jahre, ehe ich erfuhr, dass sie sich das Leben genommen hatte, wohl aus Liebeskummer. Ihr Arbeitgeber, ein Zahnarzt, in den sie sich verliebt hatte, erfüllte das Versprechen seines besten Freundes, dessen Frau zu heiraten, sollte er umkommen. So war das damals. Man arrangierte sich, und manche, wie meine zu depressiven Schüben und Hysterie neigende 27-jährige Mutter, blieben auf der Strecke. So lebte ich, als ich aus der Schweiz zurückkam, bei meiner Großmutter, und es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Mein Bruder war nun dran, er ging für ein Jahr in die Schweiz, und ich hatte Oma ganz für mich. Doch dieses Glück währte nur kurz, meine Oma starb, auch sie viel zu jung, sie war gerade fünfzig geworden. So kamen ich und mein Bruder zu meinem Vater nach Frankfurt in ein hartes, entbehrungsreiches Leben, wir hatten kaum Platz, mein Bruder schlief auf einem Schrank, ich in der Küche. Die Beziehung zu Vater und seiner Frau war schwierig.

      Der Kontakt in die Schweiz blieb, die Ficks besuchten uns, und als Ernst Fick vorschlug, uns Kinder wieder für ein Jahr zu sich zu nehmen, wurde man sich rasch einig. Wir wurden nicht gefragt. Und so waren wir 1950 wieder in der Schweiz, im St. Galler Quartier St. Georgen, und wurden sofort eingeschult. Ich war zehn Jahre alt, mein Bruder acht. Wir lebten uns gut ein, und ich blieb, während mein Bruder nach einem Jahr nach Frankfurt zurückgeschickt wurde. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie es möglich war, dass ich bleiben durfte. In den Unterlagen meines Pflegevaters, der mir zum Vater wurde, fand sich nichts dazu. Er muss sie irgendwann entsorgt haben. Man hatte sich wohl mit den Behörden arrangiert.

      Ich verbrachte eine glückliche, sorgenfreie Jugend, es fehlte mir an nichts, und ich dachte keine Sekunde daran, nach Deutschland zurückzukehren. Ich habe einen Schweizer geheiratet, ich wurde Schweizer Staatsbürgerin. Wir lebten viele Jahre im Tessin und handelten mit Textilien. Kurz vor meiner Pensionierung kehrte ich allein nach St. Gallen zurück. Wir hatten uns getrennt. Der Kontakt zu meiner Familie in Deutschland war nie ganz abgerissen, aber er beschränkte sich auf das Wesentliche. Man telefonierte ab und zu und traf sich bei Gelegenheit. Als ich meinen Vater kurz vor seinem Tod in seinem 96. Lebensjahr nochmals sah, machte er mir Vorhaltungen, warum ich nicht zurückgekehrt sei, als ich volljährig wurde. Er hätte mir eine Karriere als Schauspielerin ermöglicht. Davon hatte er nie gesprochen. Ich verstand es als eine Art Reuebekenntnis, aber ich wäre auch nicht zurückgegangen, wenn er mich eingeladen hätte.

      Ein Kreis hat sich geschlossen. Es war das Rote Kreuz gewesen, das mir meinen ersten Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht hatte. Nun bin ich seit bald zwanzig Jahren ehrenamtlich als Fahrerin für das Rote Kreuz unterwegs. Ich bin zufrieden und dankbar. Schweizerin im Herzen bin ich dennoch nicht geworden, auch als Deutsche sehe ich mich nicht. Ich bin Europäerin.«

      Monika Gyr, Jahrgang 1940, lebt in Gossau im Kanton St. Gallen.

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