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einen neuen Fluchtversuch in die Schweiz. Diesmal ist sie allein und gut instruiert. Sie schafft es über die Grenze und, geführt von einem Fluchthelfer, über die Grenzzone hinaus. Inge ist gerettet. Beinahe. Denn nach wie vor gilt die Direktive, jüdischen Geflüchteten grundsätzlich die Aufnahme zu verwehren. Und Inge ist inzwischen 18-jährig. Damit gilt eine am 14. Juli 1943 eingeführte Lockerung, dass jüdische Mädchen bis zum 18. Lebensjahr aufgenommen werden, nicht mehr. Sechs Wochen noch, so empfehlen es ihr ihre Helfer, müsse sie sich versteckt halten. Inge verbringt einige friedvolle Wochen auf einem Bergbauernhof in Hohfluh im Berner Oberland. Danach hat sie nichts mehr zu befürchten. Sie wird offiziell registriert. Ein dauerndes Bleiberecht hat sie, wie alle Geflüchtete in der Schweiz, nicht. Sie kommt auf einem Bauernhof in Gampelen unter. Kurz darauf konvertiert sie, auf Bitte ihrer Retterin und voller Dankbarkeit, zum lutheranischen Protestantismus und wird konfirmiert. Auf allen Papieren, die sie später ausfüllt, gibt sie an, sie sei Jüdin. Nur den Christbaum wird sie zeit ihres Lebens an Weihnachten schmücken. Doch der Glaube bedeutet ihr nichts, weil er ihr nichts bietet, vor allem keine Erklärung für all den Schrecken, den sie erfahren hat.

      In den Wirren der letzten Kriegstage weichen Zehntausende in die Schweiz aus, um den Kämpfen und dem wachsenden Chaos zu entgehen. Sie bleiben meist nur wenige Tage und kehren zurück, sobald es die Lage erlaubt. Die offizielle Schweiz unterstützt sie in einer Großzügigkeit und mit einem Mitgefühl, die man sich in den Jahren zuvor gewünscht hätte. Das Image des sich seiner humanitären Tradition rühmenden Landes ist vor allem bei den alliierten Siegermächten arg ramponiert. 1944, nach der Befreiung Frankreichs, waren die kritischen Stimmen von zurückkehrenden Geflüchteten über ihre Behandlung in der Schweiz nicht mehr zu überhören gewesen. Schon im Dezember 1943 hatte Ständerat Ernst Speiser in einem Brief an den Bundesrat die Schaffung einer überparteilichen und gesamtschweizerischen Aktion zur Nachkriegshilfe angeregt. Diese sei eine »menschliche und moralische Verpflichtung«. Bundesrat Marcel Pilet-Golaz antwortete umgehend: »Das Problem, das Sie beschäftigt, ist außerordentlich komplex, zugleich politischer, wirtschaftlicher, finanzieller und humanitärer Art.« Er solle doch persönlich bei ihm vorbeikommen. In den folgenden Monaten reift in zahlreichen Sitzungen und Besprechungen nach und nach das Projekt der »Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten«, die »einzig Ausdruck der Menschlichkeit« sein soll »und nicht das Ziel verfolgt, aus der Beteiligung am Wiederaufbau Europas materiellen Nutzen zu ziehen«. 200 Millionen Franken sollen dafür von Bevölkerung und Bund gemeinsam aufgebracht werden. Es ist eine enorme Summe, die rund einen Drittel der geplanten Ausgaben des Bundes für das Jahr 1945 ausmacht. Sie entspricht heute rund einer Milliarde Franken und damit in etwa der Kohäsionsmilliarde, die die Schweiz den zehn neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in den Jahren 2007 bis 2018 als »Erweiterungsbeitrag« leistete. Mit einer professionellen Werbekampagne, in die Medien, Hilfswerke und Künstler eingebunden sind, gelingt es, unter dem Slogan »Unser Volk will danken« in nur zwei Monaten 50 Millionen Franken zu sammeln. Zu Kriegsende ist der finanzielle Topf prall gefüllt. Schon in den letzten Monaten ist in den ersten befreiten Gebieten in Frankreich, Belgien und den Niederlanden erste Nothilfe geleistet worden. Die Schweizer Spende ist eine Wiedergutmachung und eine wohlmeinende Geste gegenüber den Alliierten, ohne dass dies je direkt angesprochen worden wäre. So ließ es sich, wie im Vorwort des 1949 erschienen Tätigkeitsberichts der Schweizer Spende, von »der Natur unseres Volkes« schwärmen, »dass wir als unbeteiligte Dritte versuchten, zu helfen, zu lindern und zu retten«.

      Tatsächlich wird von der Schweizer Spende viel geleistet, zu Beginn vor allem medizinische Nothilfe und Lebensmittel, später auch Kleidung, Obdach, Unterstützung beim landwirtschaftlichen Wiederaufbau, Bildung und Kultur. Der Schwerpunkt liegt über die knapp vier Jahre hinweg rund zur Hälfte bei Leistungen, die direkt Kindern zugutekommen. Dazu zählt die Tradition der Kinderzüge, die nun in steigender Zahl in die Schweiz rollen und nicht mehr länger einer privaten Finanzierung bedürfen. An der Politik der allerhöchstens vorübergehenden Aufnahme von Geflohenen hält der Bundesrat aber eisern fest. Das zeigen exemplarisch die »Buchenwaldkinder«. Am 1. Mai 1945 war Rodolfo Olgiati, Generalsekretär der Schweizer Spende, nach Versailles ins Hauptquartier der Alliierten gereist, um zu eruieren, inwieweit die Schweizer Spende mit der alliierten Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung UNRRA kooperieren könnte. Einen Beitritt hatte der Bundesrat aus neutralitätspolitischen Überlegungen ausgeschlossen. Millionen von Vertriebenen, sogenannte displaced persons, müssen ernährt, untergebracht und medizinisch versorgt werden. Als die UNRRA vorschlägt, die Schweiz könnte vertriebene, staatenlose Kinder aufnehmen, läuten in Bern die Alarmglocken. Denn niemand denkt ernsthaft an eine dauerhafte Aufnahme, und gerade bei staatenlosen Kindern wäre es schwierig, »diese wieder loszuwerden«, wie es in einer Aktennotiz heißt. Und so schlägt wiederum die Schweizer Spende der UNRRA nach einem guten Monat des internen Streits vor, bis zu 2000 Kinder aufzunehmen, unter anderem unter der Voraussetzung, dass diese nicht älter als zwölf Jahre seien, aus Deutschland stammten und befristet für ein halbes Jahr, maximal aber 18 Monate aufgenommen würden. Das UNRRA antwortet rasch und ersucht, 350 13- bis 16-jährige Kinder aus dem befreiten Konzentrationslager Buchenwald aufzunehmen. Widerwillig wird dem Gesuch schließlich stattgegeben. Man möchte es sich mit den Alliierten nicht gleich zu Beginn der Zusammenarbeit verderben. Die übrigen 1650 Kinder, deren Aufnahme man angeboten hat, müssten dann auf jeden Fall unter zwölf Jahre alt sein.

      Am 23. Juni 1945 trifft der Zug aus Buchenwald ein. Und wieder kommt Ungemach auf die Bürokraten der Schweizer Spende zu. Denn im Zug sitzen 374 junge Menschen, von denen mehr als die Hälfte älter als 17 Jahre sind. Alle sind Juden. Und wieder bleiben nur das Zähneknirschen und ein politischer motivierter Entscheid. Es sei »von eminentem politischen Interesse, diese [die UNRRA] nicht vor den Kopf zu stoßen«, erklärt Rodolfo Olgiati in einer Krisensitzung. Es kommt zu einem fadenscheinigen Kompromiss. Es werden zwar alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgenommen, doch die älteren von ihnen erhalten nur den Status illegal eingereister Geflüchteter. Ausgewiesen wird niemand. In den kommenden Monaten erweist sich das Angebot der Schweizer Spende, die hartnäckig an Kindern unter 12 Jahren mit nachgewiesener Nationalität festhält, als fernab jeder Realität. Auf die Vorschläge seitens der UNRRA, stattdessen Jugendliche aufzunehmen, wird nicht eingegangen. Im Februar 1946 bestätigt die UNRRA der Schweizer Spende auf deren Wunsch, dass deren Angebot nicht mehr gültig sei. Die Realität, dass nur ganz wenige Kinder unter 12 Jahren den Horror der Konzentrationslager überlebt haben, spielt in diesen Überlegungen keine Rolle. Im Tätigkeitsbericht der Schweizer Spende bleiben die Buchenwaldkinder unerwähnt.

      Die 374 Buchenwaldkinder entsprechen in keiner Art und Weise dem Bild von bis aufs Skelett abgemagerten Kindern, das man sich gemacht hatte: Sie sind, über zwei Monate nach der Befreiung durch britische Truppen, bei guter Gesundheit und wohl genährt. Als man sie in militärisch organisierte Lager steckt, begehren sie auf, disziplinarische Maßnahmen mit antisemitischem Unterton lassen sie sich nicht gefallen. Und weil der Bundesrat anfänglich darauf besteht, die Betreuung der staatsnahen Kinderhilfe des Roten Kreuzes anzuvertrauen, sind die jüdischen Organisationen ausgeschlossen. Noch vor wenigen Jahren waren sie vom Staat praktisch im Stich gelassen worden, die Mittel für die Betreuung jüdischer Geflüchteter mussten sie selbst aufbringen. Als sie und andere Hilfswerke schließlich nach einigen Monaten zugelassen werden, sind sie genauso überfordert. Für die große Mehrheit der Buchenwaldkinder dauerte der Aufenthalt in der Schweiz länger als die geplanten maximal eineinhalb Jahre. Geblieben sind nur dreißig.

      Die Weiterwanderung bleibt auch nach Kriegsende das Ziel der schweizerischen Flüchtlingspolitik. Das gilt auch für die jungen Leute, die während des Kriegs in die Schweiz gelangt sind. Das SHEK befragt zwischen Juli 1944 und Februar 1945 1350 alleinstehende Kinder und Jugendliche, um mehr zu erfahren über Herkunft, Alter, Familie und mögliche Auswanderungsziele. In den folgenden Monaten gelingt es in 1186 Fällen, Angehörige im Ausland ausfindig zu machen. 164 Kinder gelten als gänzlich verlassen. Für 103 von ihnen ist bereits die Auswanderung nach Israel organisiert. Insgesamt werden es bis Ende 1947 450 Kinder sein. Der überwiegende Teil kehrt aber ins Heimatland zurück.

      Auf der politischen Bühne steigt der Druck auf den Bundesrat, die restriktive Praxis aus Kriegstagen zu ändern und an die Realität einer Nachkriegszeit anzupassen, in der nach wie vor in ganz Europa Millionen von Menschen heimatlos sind. Doch erst knapp zwei Jahre nach Kriegsende wird das »Dauerasyl«

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