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Es herrscht striktes Arbeitsverbot, es braucht gültige Identitätspapiere (gerade für ausgebürgerte deutsche Juden ein Ding der Unmöglichkeit) und es müssen hohe Kautionen von bis zu 10’000 Franken geleistet werden, was inflationsbereinigt heute etwa 75’000 Franken entspricht. Sie müssen zudem für ihren Lebensunterhalt selber aufkommen. Schon die »tatsächliche oder mit Sicherheit vorauszusehende Inanspruchnahme der öffentlichen oder privaten Wohltätigkeit« genügt als Abweisungsgrund. Das Bleiberecht hängt deshalb vom Engagement der Hilfswerke ab, was diese wiederum dazu zwingt, den Geflohenen eine möglichst rasche Weiterreise zu ermöglichen. Die Helferinnen (es sind in der Mehrheit Frauen) versuchen unter Federführung der 1936 als Dachverband gegründeten Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe bei den Behörden zu intervenieren. Ihr Forderungskatalog enthält unter anderem jeweils für ein Jahr gültige Flüchtlingsausweise, längere Ausreisefristen, Beiträge an die Hilfswerke und den Verzicht auf Kautionen, wenn die Hilfswerke für den Unterhalt aufkommen. Er bleibt unberücksichtigt. Heinrich Rothmund, seit 1919 Chef der Fremdenpolizei, spricht in einem internen Papier von den »Trägerinnen« der Hilfsaktionen, »die gern das Maß für das Mögliche verlieren«. Er sieht »eine Gelegenheit, ihnen den Weg zu weisen, auf dem sie Nützliches leisten können und sie aus der Utopie zurückholen [sic]«.

      Auf den »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich am 15. März 1938 und die kurz darauf einsetzende Judenverfolgung und -vertreibung reagierte die Schweiz mit der Einführung der Visumspflicht für Österreicher. Auf Vorschlag der Schweiz führen die reichsdeutschen Behörden im September 1938 den J-Stempel in den Pässen ein, der Staatsbürger jüdischen Glaubens brandmarkt. Heinrich Rothmund ist zufrieden: »Wir haben seit dem Bestehen der Fremdenpolizei [1917] eine klare Stellung eingehalten. Die Juden galten in Verein mit den anderen Ausländern als Überfremdungsfaktor. Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit, die Verjudung der Schweiz zu verhindern.« Dennoch schaffen es Kinder aus Österreich allein in die Schweiz, wo sie, zusammen mit rund 200 Kindern, die aus gesundheitlichen Gründen oder als Kleinkinder vorübergehend aufgenommen worden sind, von verschiedenen Hilfsorganisationen, unter ihnen auch dem SHEK, weiter betreut werden. Nach der »Reichskristallnacht« und den Pogromen am 9. November 1938 gelingt es dem SHEK, Rothmund das Zugeständnis für die Aufnahme von 300 jüdischen Kindern aus Deutschland abzuringen. Georgine Gerhard von der Sektion Basel appelliert in einem Brief an Rothmund, »dass es eine Schande wäre, die Hilfsbereitschaft der Schweizer Bevölkerung ungenutzt zu lassen«. Der Chef der Fremdenpolizei bewegt sich im Rahmen des Zulässigen und einer Politik, die im Grundsatz nur sogenannte Toleranzbewilligungen für einen Aufenthalt von jeweils drei Monaten zulässt, die laufend verlängert werden müssen. Eine Garantie für die Weiterreise will das SHEK nicht abgeben, aber man werde das Möglichste tun. Auch damit bewegte sich das SHEK im Rahmen seines engen Spielraums – eine Gratwanderung zwischen Unterwerfung unter die behördlichen Vorgaben und der reinen Menschlichkeit.

      Die Schweizer Behörde machte restriktive Auflagen zu Höchstalter, Herkunft und sozialen Verhältnissen (die Kinder mussten entweder Vollwaisen sein oder ein Elternteil musste im Konzentrationslager inhaftiert sein), sie verlangte gültige Ausweispapiere und Angaben zu Aufenthaltsdauer, Weiterwanderung und Finanzierung. Geld vom Bund für die Betreuung der 300 Kinder war nicht vorgesehen. Noch bis 1942 überließ man die Mittelbeschaffung auf Basis eines Abkommens mit dem Israelitischen Gemeindebund von 1938 weitgehend den 18’000 in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossenen Jüdinnen und Juden in der Schweiz und weiteren Hilfswerken. Das Geld kam in steigendem Umfang auch aus dem Ausland, namentlich von der jüdischen US-amerikanischen Hilfsorganisation Jewish Joint Distribution Comitee JOINT. Bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 gelang es, rund 250 Kinder in die Schweiz zu bringen. Sie wurden vorwiegend in zwei Heimen in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Baselland untergebracht. Die verlangte Weiterwanderung gelang wegen des Kriegsausbruchs nur in wenigen Fällen. Über 220 Kinder verbrachten die Kriegszeit in der Schweiz. Die meisten verließen das Land nach dem Krieg. Nur ganz wenige blieben. Es sei ihr über viele Jahre schwer gefallen, über diese Zeit zu sprechen, erinnert sich Karola Siegel (die sich nach ihrer Auswanderung in die USA Ruth Westheimer nennen und eine Karriere als Sexualtherapeutin machen wird) in ihrer Autobiografie. »In den Hunderten Interviews, die ich als Dr. Ruth gegeben habe, kam ich eigentlich nie darauf zu sprechen; nicht nur, weil sie so schwierig und schmerzlich waren. Nein, vor allem wegen eines Satzes, der uns während der sechs Jahre in der Schweiz so erfolgreich eingehämmert worden war: Beklage dich nie. Du hast Glück, dass du noch am Leben bist.«

      Das SHEK konzentriert seine Arbeit im Zweiten Weltkrieg gezwungenermaßen auf die Hilfe für die in die Schweiz geflohenen Kinder. Diese leben, wenn sie alleine sind, in der Regel in Heimen oder, wenn sie mit ihren Eltern in die Schweiz gekommen sind, in privaten Unterkünften und zunehmend in Internierungslagern. Der Bund beschließt am 12. Mai 1940 die Internierung aller Geflüchteten in Lagern und setzt diese Politik nach und nach um. Damit soll insbesondere die dauerhafte Niederlassung verhindert werden. Diese Bestimmungen sind schon im Herbst 1939 wesentlich verschärft worden. Die Kantone sind angewiesen, jeden rechtswidrig, also ohne Visum eingereisten »Emigranten«, wie die Geflohenen neuerdings genannt werden, mit ganz wenigen Ausnahmen auszuweisen. Damit, so die krude Begründung aus dem Justiz- und Polizeidepartement, sollte Gerechtigkeit mit all jenen hergestellt werden, denen auf Botschaften und Konsulaten ein Visum verweigert worden war. Arbeiten ist den Aufgenommenen weiter verboten beziehungsweise nur im Rahmen von Arbeitseinsätzen erlaubt. So bauen Internierte unter anderem die Sustenpassstraße. Die Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder ermöglicht in den Jahren 1940 und 1941 auch rund 7000 Kindern aus Frankreich und Belgien dreimonatige Erholungsaufenthalte in der Schweiz. Die Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung ist riesig. Es stehen jeweils weit mehr Plätze in Familien zur Verfügung, als Kinder aufgenommen werden können. Jüdische Kinder sind nicht mehr darunter. Die Schweizer Behörden werfen diese Kinder in einen Topf mit den Erwachsenen. Eine Aufnahme, und sei es auch nur für drei Monate, wird verweigert.

      Am 1. Dezember 1942 bestimmt der Bundesrat unter dem Druck der rasch steigenden Zahl Minderjähriger das SHEK als zuständig für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 16 Jahren. Die fast ausschließlich von – den damals politisch rechtlosen – Frauen getragene, ihre politische Neutralität stets betonende Organisation wird von der Männerrunde offensichtlich nicht ganz ernst genommen. Man geht davon aus, es mit willfährigen Ausführungsgehilfinnen zu tun zu haben, die die restriktive Flüchtlingspolitik mittragen. Ganz täuschen sich die hohen Herren nicht in dieser Einschätzung. Das hat allerdings nichts mit eingebildeter männlicher Überlegenheit, sondern vielmehr mit Realpolitik zu tun: Der Bundesrat hat mit der vom Parlament am 30. August 1939 beschlossenen Vollmachtenregelung, die der Regierung gesetzgeberische und finanzpolitische Kompetenzen überließ, längst weit mehr als die reine Exekutivgewalt und die in der Verfassung vorgesehenen Kompetenzen inne.

      JOINT übernimmt ab 1943 mit insgesamt 2,5 Millionen Franken zusammen mit der südafrikanischen Partnerorganisation Jewish War Appeal den größten Teil der Kosten des SHEK. Daneben gibt es Geld von der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes. Der Bund hält sich weiter zurück. Die Aufwendungen in den Pflegefamilien tragen diese selbst. Den größten Teil der Einnahmen bilden aber private Geld- und Sachspenden. Ältere, Kranke, Frauen und Kinder sind vom Arbeitsdienst befreit, müssen aber dennoch interniert werden. Kleinkinder bis zu sechs Jahren dürfen bei ihren Müttern bleiben, die älteren Kinder werden in Heimen oder Pflegefamilien betreut. Familien werden so auseinandergerissen, Väter, Mütter und Kinder an verschiedenen Orten untergebracht, Besuche sind in der Regel nur quartalsweise erlaubt. Das SHEK trägt diese Politik im Brustton der Überzeugung mit, plädiert gar dafür, schon Kinder ab zwei Jahren von ihren Müttern zu trennen. Von »Lagerbefreiung« ist die Rede, als damit begonnen wird, Pflegefamilien zu suchen. Dort sei das Leben für die Kinder »normal« und deren Entwicklung förderlich. Unbegleitete Minderjährige werden in drei Auffanglagern untergebracht. Oft dauert es Monate, bis sich ein Heimplatz oder eine Pflegefamilie findet. Bis Ende 1943 steigt die Zahl der betreuten Kinder auf 2000. Etwa zwei Drittel leben bei Schweizer Familien, 200 Kinder sind von ihren Müttern getrennt worden. Erst nach massiven Protesten lockert das SHEK Anfang 1944 die harte Praxis etwas, kommt aber wieder davon ab, nachdem es in den Lagern, wo schulpflichtige Kinder bei ihren Eltern bleiben durften, zu Protesten gekommen war, wonach die Kinder »verwildern,

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