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eines mangelhaften Rationierungssystems sind. Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Ostjuden werden nun pauschal als unerwünscht bezeichnet. 1917 nimmt der Bundesrat auf dem Verordnungsweg das Heft, das bislang von den Kantonen geführt wurde, selbst in die Hand. Es sind die führenden Beamten der neu geschaffenen Zentralstelle für die Fremdenpolizei, die einen schon seit der Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit herumgeisternden Begriff zur Staatsräson machen: die »Überfremdung«. Deren Bekämpfung, namentlich der »Verjudung« der Schweiz, wird nun zur wichtigsten Aufgabe der Fremdenpolizei. Dabei schrumpft der Ausländeranteil kontinuierlich, auf 10,4 Prozent 1920, 8,7 Prozent 1930 und noch 5,2 Prozent 1941, während der Anteil jener Einwohner mit ausländischem Pass, die in der Schweiz geboren sind, steigt. Die Einbürgerungsbedingungen werden verschärft. Die Wartefrist für das Gesuch wird von zwei auf vier und später sechs Jahre erhöht. Heute sind es zehn. Damit verkehrt sich ein Credo der eidgenössischen Einwanderungspolitik nach und nach ins Gegenteil. War vor dem Ersten Weltkrieg noch die rasche Einbürgerung als eigentliches Ziel betrachtet und gar erwogen worden, Ausländer zwangseinzubürgern, so verschwindet diese nun von der politischen Landkarte, und in der Niederlassungspolitik herrschen Kriterien wie »politische und soziale Auslese« vor. Die Einwanderung soll nur dann möglich sein, wenn es wirtschaftliche Erfordernisse gibt. 1925 erhält der Bund per Volksentscheid definitiv die alleinige Kompetenz in der Regelung von Ausländerfragen. 1931 wird das »Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer« verabschiedet. Es tritt 1934 in Kraft und fixiert den Kampf gegen die sogenannte Überfremdung mittels Koppelung von Niederlassung und wirtschaftlicher Notwendigkeit. Geregelt ist darin in zwei Sätzen auch die Asylpolitik. Danach entscheidet der Bundesrat über die Gewährung politischen Asyls. Die später erlassenen Ausführungsbestimmungen sind präziser: Die Schweiz versteht sich als reines Transitland für Geflohene. Bund und Kantone sind für die administrative Kontrolle zuständig, die Finanzierung des Aufenthalts müssen die Betroffenen selbst, Hilfswerke oder private Organisationen übernehmen. Juden, die aus rassischen Gründen verfolgt werden, haben kein Asylrecht. Auch Kommunisten sind ausgeschlossen. In der Folge sind es fast ausschließlich verfolgte politische Würdenträger und Intellektuelle, denen Asyl gewährt wird. Dieses politische Asyl erhalten in der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1945 644 Menschen. Kinder, seien es Waisen oder seien sie mit ihren Eltern auf der Flucht, spielen in diesen ersten gesetzgeberischen Schritten der Schweizer Geschichte zur Asylpolitik keine Rolle. Das wird sich bald ändern.

      Als der Schweizer Rodolfo Olgiati, seit 1935 Sekretär des Internationalen Zivildiensts, auf einer Erkundungsmission am 23. Januar 1937 mit einem überfüllten Nachtzug aus Barcelona in Valencia eintrifft, zählt die Stadt über eine Million Einwohner. Zwei Drittel von ihnen sind aus Madrid und anderen Gebieten, wo seit einem halben Jahr der Spanische Bürgerkrieg tobt, evakuiert worden. Die meisten von ihnen sind Kinder. »Man erzählt Fälle von einfachen Arbeitern oder von Bauern, die selbst mehrere Kinder haben und dazu drei, vier, ja sechs Flüchtlingskinder aufnehmen. Viele von ihnen geben ihr letztes her«, erinnert sich Olgiati in seinem Buch Nicht in Spanien hat’s begonnen. Rasch stellt sich heraus, dass es an Transportmitteln mangelt für die weiteren Evakuationen. Es ist die Rede von 350’000 Menschen, die allein in Madrid auf einen Transport warten. So wird klar, dass die beabsichtigte Hilfe der im Februar 1937 gegründeten »Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder« vorerst darin bestehen muss, Unterstützung bei den Evakuationen zu leisten und Nahrungsmittelhilfe bereitzustellen. In den kommenden Wochen gelingt es, in der Schweiz genügend Mittel zu sammeln, um vier Lastwagen zu kaufen. Die offizielle Schweiz hält sich wenig vornehm zurück, die Sympathien des Bundesrats liegen mehrheitlich bei den Aufständischen unter Führung des Putschisten Francisco Franco, dem späteren Diktator des Landes. Die Aufständischen wollen von Anfang an von der privat organisierten Hilfe aus der Schweiz nichts wissen, obwohl die Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder ihre Neutralität betont und ausschließlich humanitäre Hilfe leisten will. Sie muss ihr Einsatzgebiet auf das Territorium der demokratisch gewählten Regierung beschränken. Am 4. Mai 1937 erreicht der kleine Schweizer Konvoi erstmals Madrid, beladen mit Kleidern und Lebensmitteln. In einem ehemaligen Kloster warten Hunderte auf den Weitertransport. In den folgenden Wochen etabliert Olgiati mit seinen Helferinnen und Helfern einen fast fahrplanmäßigen Betrieb zwischen Valencia und Madrid. Zwei Drittel der Evakuierten sind Kinder. Die Not ist groß, und die Notleidenden klopfen auch an die Türe der Schweizer Helferinnen und Helfer, die ihr Quartier in der Nähe von Valencia aufgeschlagen haben. »Wenn wir wegen der Beschränktheit der Mittel oft nicht um eine gewisse Härte und Unerbittlichkeit herumkommen, so müssen auch aus dem Neinsagen Sympathie und Gerechtigkeitswille herauszuspüren sein«, schreibt Olgiati. »Wir wissen, dass, wenn es auch, äußerlich gesehen, beim Geben darum geht, einem ganz bestimmten Menschen hier und jetzt zu helfen, tiefer betrachtet, dabei doch ebenso sehr der Geber selbst infrage steht.« Inzwischen betreiben die Schweizer Helfer der Ayuda Suiza mehrere Kantinen in Madrid, etwa in der größten Frauenklinik der Hauptstadt. Mit Fortdauer des Kriegs wächst auch die Not, und zunehmend werden die Versorgung mit Lebensmitteln und die Suppenküchen zum Hauptaufgabengebiet, das international koordiniert sein will. Die Hilfe kommt aus vielen Ländern. So sind im Sommer 1938 in Katalonien fünfzig Kantinen zur Versorgung von 12’000 Kindern in Betrieb. Parallel dazu gehen die Evakuierungsfahrten weiter, allein im Juni 1938 werden von zwei Lastwagen 1960 Menschen transportiert. Die Lage wird immer dramatischer. Im September 1938 wird die tägliche Ration an Lebensmitteln auf 850 Kalorien gesenkt. Im Januar 1939 hat der Krieg längst auch Barcelona erreicht. Olgiati gelingt es, 82 erschöpfte Kinder nach Frankreich zu bringen. Sie werden die kommenden Wochen in der Schweiz verbringen und kehren im Frühjahr 1939 nach Spanien zurück. Die Ayuda Suiza wird von den neuen Machthabern außer Landes geschickt, auch wenn die Not, wie Olgiati bei einem letzten Besuch in Madrid im Mai 1939, als der Krieg vorbei ist, feststellt, größer sei denn je. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlassen die letzten Schweizer Helfer Spanien. Die Arbeit geht in Südfrankreich weiter. Hunderttausend Menschen fliehen nach dem Ende des Bürgerkriegs in das Nachbarland. Unter ihnen sind viele Kinder, die in den Kantinen der Ayuda Suiza ein- und ausgegangen sind.

      Frankreich ist schon wenige Wochen nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 zum Exilland für viele politisch und rassisch Verfolgte aus Deutschland geworden. Die Not der Geflohenen in Paris ist groß, der französische Staat zunehmend überfordert. Vor allem die Kinder leiden. Schon im Herbst 1933 gründen zwanzig Frauen in Zürich das »Comité d’aide aux enfants«, eine Unterabteilung des »Comité international d’aide aux victimes du fascime hitlérien«. Sie möchten vor allem Geld sammeln, um das Schwesterkomitee in Paris zu unterstützen. Doch rasch wird klar, dass dieses damit heillos überfordert ist. So kommt es am 4. April 1934 zur Gründung des Schweizerischen Hilfswerks für Emigrantenkinder SHEK als Dachorganisation mehrerer lokaler Komitees. Das Ziel: »den heimatlosen Kindern des politisch aufgewühlten Europa ohne Unterschied von Konfession und Weltanschauung materiell und fürsorgerisch beistehen«, wie aus den Statuten der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder hervorgeht. Damit lebt auch die Idee der Kinderzüge wieder auf. Mathilde Paravicini übernimmt, aufbauend auf ihren Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, diese Aufgabe. Schon am 14. April reisen die ersten Kinder ein. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs werden rund 5000 jüdische Migrantenkinder aus Deutschland und Russland, die mit ihren Eltern unter prekärsten Umständen in Frankreich leben, zwei- bis dreimonatige Erholungsaufenthalte in der Schweiz verbringen. Diesen Kindern wird die Einreise nur mit gültigen Papieren und einer Rückreisebestätigung gestattet.

      Die Schweizer Bürokratie wirkt wie ein Knüppel, der zwischen die Beine geworfen wird. So heißt es in einem Brief einer kantonalen Fremdenpolizei: »Weisungsgemäß setzen wir Sie in Kenntnis, dass in nächster Zeit solche Bewilligungen nicht erteilt werden können. In der Schweiz selbst sind ohne Zweifel sehr viele erholungsbedürftige Kinder vorhanden, und es können der Familie A aus Städten und Gebirgsgegenden solche in großer Zahl zur Aufnahme offeriert werden«, wie sich Nettie Sutro in ihrem Buch Jugend auf der Flucht 1933–1948 erinnert. Sutro leitet das SHEK von der Gründung bis zu dessen Auflösung 1947. Das SHEK betreut in den Vorkriegsjahren auch Kinder, die in der Schweiz Aufnahme gefunden haben, in der Regel mit ihren Eltern, im Ausnahmefall auch allein.

      Die Schweiz setzt in diesen Jahren auf dem Behördenweg um, was politisch in den Jahren 1931 bis 1934 aufgegleist worden war. Sie

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