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Kinder auf der Flucht. Martin Arnold
Читать онлайн.Название Kinder auf der Flucht
Год выпуска 0
isbn 9783858698902
Автор произведения Martin Arnold
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Wir lassen in diesem Buch Geflüchtete, freiwillige und professionelle Helferinnen und Helfer zu Wort kommen. Wir porträtieren Kinder und Jugendliche, die kürzlich erst geflohen sind, solche, die mitten im Leben stehen, aber auch ältere Menschen, die heute auf ihre Kindheit und ihre Flucht zurückblicken. Einige von ihnen sprechen in direkter Rede zu den Leserinnen und Lesern. Das ist uns wichtig, denn diese Aussagen eröffnen den Blick eines Betroffenen auf das Thema, der oft nicht nur intimer, sondern auch präziser ist und so die Empathie erleichtert. Wenn es sich um Menschen handelt, die als Kinder in die Schweiz kamen und das restliche Leben hier verbracht haben, so sind deren Erinnerungen umso wertvoller, denn sie lassen Rückschlüsse auf die heutige Integrationsarbeit zu. Diese ist vielfältig, und wir gehen dabei auch der Frage nach, wie Integration überhaupt definiert werden kann. Gleichzeitig wollen wir die Erfahrungen der Integration der früheren und der jüngeren Zeit vergleichen. Hat die Politik, haben wir als Gesellschaft etwas aus vergangenen Epochen gelernt, oder herrscht auch heute die Ansicht vor, es genüge, wenn die Kinder zur Schule gehen können und ein Dach über dem Kopf haben? Geflüchtete Kinder haben alle einen mehr oder weniger langen Abschnitt der Kindheit hinter sich, der glücklicher hätte verlaufen können. Das lässt sich nicht rückgängig machen. Aber wir können einen Beitrag dazu leisten, dass in der Gegenwart ihre Wunden heilen und die Chancen für ihre Zukunft intakt sind.
Erstes Kapitel
Vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs
Von der Liebestätigkeit zum vollen Boot
Der Erste Weltkrieg (1914–1918) schafft ein kollektives Leid, wie es die Welt bis dahin noch nie gesehen hat. In Europa bleibt die Schweiz vom Kriegsgeschehen verschont. Bundespräsident Giuseppe Motta spricht in einer Rede im Dezember 1914 von der Schweiz als »Heiligtum«, auf ihrem Boden werde der »Patriotismus menschlicher«; die »Kulturmission der Schweiz« scheine angesichts des Kriegs in Europa »größer« zu werden. Als »inter arma caritas«, Nächstenliebe zwischen den Waffen, beschreibt Pfarrer E. Nagel 1916 in seinem Buch Die Liebestätigkeit der Schweiz im Weltkrieg dieses Wirken. Ein Kapitel widmet er der Aufnahme von belgischen Geflüchteten und Waisenkindern. Die Waadtländerin Mary Widmer-Curtat (1860–1947) gründet im Herbst 1914 das Komitee »L’œuvre de secours aux réfugiés belges« und ruft dazu auf, Geld, Kleider, Decken und so weiter zu spenden. »Anmeldungen von solchen, die willens sind, belgische Kinder und Frauen bei sich aufzunehmen«, würden entgegengenommen. Das Echo ist überwältigend. Für 4000 Waisenkinder werden Plätze gemeldet. Doch die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Aus dem ersten Zug, der in Lausanne am 27. Oktober 1914 eintrifft, steigen Menschen aller Generationen aus: Mütter mit ihren Kindern und deren Großmüttern, Alte, Kranke, auch junge, dienstpflichtige Männer. Die Flüchtlinge werden trotzdem begeistert empfangen und, nach ein paar Tagen in einer provisorischen Unterkunft, auf die Familien verteilt. Bis ins Frühjahr 1915 werden 1350 belgische Geflüchtete aufgenommen, ab Sommer kommen auf Bitten der belgischen Königin bis zum Jahresende 444 Waisenkinder dazu. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs werden es über 9000 belgische Kinder, Geflohene und Internierte sein, die in der Schweiz Zuflucht finden. 1919 wird Widmer-Curtat als »Chevalier de l’ordre de Léopold« geehrt, im Volksmund wird sie zur »Großmutter Belgiens«.
Die Baslerin Mathilde Paravicini, die an vorderster Front bei der Organisation und Durchführung des Austauschs von Verwundeten der Kriegsparteien auf den Schweizer Grenzbahnhöfen Basel und Schaffhausen mitgewirkt hat, initiiert 1917 die ersten Kinderzüge, mit denen Auslandschweizerkinder aus den Kriegsgebieten zu mehrwöchigen Erholungsaufenthalten in die Schweiz gefahren werden. Danach wird das Programm generell auf Kinder aller Kriegsparteien ausgeweitet. Bis 1921 werden, getragen von knapp zwei Dutzend Organisationen, die sich im »Schweizerischen Komitee für notleidende Auslandkinder« zusammenschließen, 124’503 Kinder in der Schweiz mehrwöchige Erholungsaufenthalte verbringen. »Mit leerem Magen, in Lumpen und Fetzen gekleidet stehen meine Schüler vor dem Schulhause, ein Bild des Elendes«, schreibt ein Behördenmitglied im Dezember 1918 aus einer österreichischen Landgemeinde an seine Amtskollegen in der Stadt Zürich. »Mutter Sorge kauert in allen Winkeln, ist wie ein treuer Hausgenosse in allen Stuben. Nur so laut gesehen wird sie nicht in unserm stillen, herben Bergwinkel. Helft, wenn ihr könnt.« (Schweizerische Lehrerzeitung, 1919, Bd. 64, S. 382)
Die Bitte wird erhört. Die Zürcher Lehrerschaft sammelt Kleiderpakete, die am 10. Januar 1919 dem Zug mitgegeben werden, der Kinder aus ganz Österreich nach ihrem Erholungsaufenthalt in ihre Heimat zurückbringt. Mathilde Paravicini wird ihr ganzes Leben der Kinderhilfe widmen. Die Zeitläufte werden ihr in den kommenden drei Jahrzehnten alles abfordern.
Diese Hilfe stand in der Tradition eines Staats, der seine 1815 am Wiener Kongress erlangte Neutralität durch humanitäres Engagement rechtfertigte, wie der Historiker Georg Kreis schreibt. »Doch die vom Liberalismus geprägte Tradition, politische Geflüchtete aufzunehmen, stößt immer dann an Grenzen, wenn eine Großmacht Druck ausübt.« Die Aufnahme der Geflohenen bleibt bis 1925 Sache der Kantone, sodass es immer wieder Nischen gibt, in denen Verfolgte sicher sind. Das gilt auch für die erste Massenflucht, als ab 1881 aus einem zunehmend antisemitischer werdenden zaristischen Russland und anderen Staaten Osteuropas Hunderttausende Jüdinnen und Juden fliehen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erreicht diese erste große Flüchtlingswelle der Moderne ihren Höhepunkt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs werden es rund drei Millionen sein. Die meisten streben, wie viele Millionen andere Auswanderer, in die Vereinigten Staaten und nach Argentinien. Einige Zehntausend bleiben in Westeuropa, einige Tausend in der Schweiz, die primär zum Transitland wird. Der Staat duldet sie, aber er leistet keine Unterstützung. Die Herausforderung für die kleinen jüdischen Gemeinden ist enorm. 12’162 Juden zählt das Land im Jahr 1900. Zehn Jahre später sind es 18’469 oder knapp 0,5 Prozent der Bevölkerung. Nur ein Drittel von ihnen hat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Es gibt beträchtliche kulturelle Hürden, da und dort werden die »Ostjuden« selbst von ihren Glaubensgenossen als »Schnorrer« tituliert, die den jüdischen Gemeindekassen auf der Tasche lägen. Denn nur sie sind für deren Unterstützung verantwortlich. Die Juden in der Schweiz haben politisch kein Gewicht, sie verfügen selbst erst seit 1866 über die Niederlassungsfreiheit und seit 1874 über das Recht zur freien Religionsausübung. 1893, als eine Volksinitiative für ein Schächtverbot gegen den Willen von Bundesrat und Parlament angenommen wird, mit teils offen antisemitischer Propaganda, werden ihnen die politischen Grenzen bewusst. Die jüdischen Migranten aus Osteuropa, so unbedeutend ihre Zahl auch gewesen sein mag, werden schon bald ungewollte Kronzeugen für eine radikale Wende der liberalen Ausländerpolitik. Sie wird nur fünfzehn Jahre später für Juden, die vor den Nazis fliehen, katastrophale Folgen haben.
Die Schweiz war bis 1914 ein Land des Freihandels und der offenen Grenzen mit einem Ausländeranteil von 14,8 Prozent. Er wird erst in den 1960er Jahren wieder erreicht werden. Es gilt für die meisten Ausländer die Niederlassungsfreiheit. Das Land wird im Ersten Weltkrieg als »Sanitätsposten Europas« auch international respektiert. 1920 tritt die Schweiz, nach einem positiven Volksentscheid und unter Wahrung einer »differentiellen Neutralität«, der sie von der Verpflichtung befreit, sich an militärischen Sanktionen zu beteiligen, dem neu gegründeten Völkerbund bei.
Doch innenpolitisch dreht der Wind. Schon während des Kriegs hat sich die großzügige Haltung gegenüber Migranten gewandelt. Von »Heuschrecken, die das ruhige Schweizerland überfluten«, ist in der Presse die Rede. Gemeint sind, wie sich der jüdisch-ukrainische Schriftsteller Schemarya Gorelik erinnert, Juden aus Galizien, Polen, Ungarn und Russland, »überhaupt die Juden«. Gorelik wird selbst kurz nach Kriegsende