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Körper schmerzte, und er stellte fest, dass man ihn katheterisiert hatte. Unbedeutend! Mühsam kämpfte er sich so weit hoch, dass er die Infusionsnadel mit den Zähnen zu packen bekam. Es gab einen kleinen stechenden Schmerz, als er sie herauszog. Er spürte ihn kaum. Sein Körper hatte schon weit Schlimmeres erlebt.

      Blutstropfen rannen seinen Arm hinab und perlten auf die gummierte Matratze. Er beugte sich tief über seinen gefesselten Arm und schielte über seine Nasenspitze hinweg auf den Kopf des Kabelbinders. Es brauchte seine ganze Konzentration und ein Dutzend vergeblicher Versuche, ehe es ihm endlich gelang, die Nadelspitze unter die Kunststoffzunge zu drücken, mit der die Zähne des Zugbandes fixiert wurden. Vorsichtig drückte er die Zunge hoch und übte dann mit dem Handgelenk Druck aus. Zahn um Zahn löste sich der Kabelbinder, schließlich fiel er mit einem leisen Klacken zu Boden.

      Der Namenlose unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen. Er schüttelte seine Hand, um die stockende Durchblutung wieder in Gang zu bringen, und griff nach der Nadel, sobald er wieder genügend Gefühl in den Fingerspitzen hatte. Nach wenigen Sekunden hatte er sich auch vom zweiten Kabelbinder befreit.

      Er schlug die Decke beiseite. Man hatte ihn tatsächlich vollkommen entkleidet.

      Während er den Katheter zog, lauschte er. Ein leises Murmeln war zu hören. Der Unbekannte hatte sein ruheloses Auf- und-ab-Gehen vor der Tür wieder aufgenommen, und von Zeit zu Zeit waren einzelne Sätze zu verstehen. „… bin schon seit zwölf Stunden im Einsatz. Ich brauch ’ne Pause.“

      Unendlich behutsam glitt der Namenlose aus dem Bett. Das leise Quietschen der Bettfedern ließ ihn erschaudern. Alle seine Muskeln spannten sich an, da er erwartete, gleich seinen Entführer durch die Tür stürmen zu sehen.

      Doch alles blieb ruhig. Er schlich näher an die Tür heran.

      „Was? Natürlich habe ich das!“, empörte sich der Mann.

      Die Stimme kam ihm nicht bekannt vor.

      Leise schlich er vorwärts und spähte durch den Türspalt in den Vorraum. Der Typ war untersetzt und ziemlich korpulent. Sein fettiges dunkles Haar hatte er zu einem Zopf gebunden.

      „Ja, es ist alles normal … Vor zehn Minuten. Ich war nur kurz pinkeln und dann hast du angerufen … Selbstverständlich sehe ich sofort nach.“ Der Typ salutierte spöttisch und beendete das Gespräch. „Was für ein Scheißjob“, schnaufte er und stopfte das Handy in seine Hosentasche. Dann wandte er sich um und ging direkt auf die Tür zu.

      Der Namenlose reagierte, ohne nachzudenken. Als der Typ die Tür aufstieß, sprang er vor und verpasste dem Mann einen gezielten Schlag auf das Karotisdreieck unterhalb des Kiefers. Der Getroffene sackte lautlos zusammen.

      Er zog dem ohnmächtig Daliegenden Hose, Hemd und Schuhe aus, dann wuchtete er ihn auf das Krankenhausbett und fesselte ihn mit den Kabelbindern. Der Mann war ganz offensichtlich nur ein Handlanger; es hätte wenig Zweck, ihn zu befragen.

      Zuerst musste er von hier verschwinden, alles Weitere würde sich zeigen. Er schlüpfte in die Kleidung des Dicken. Die Hose war zu kurz und das Hemd wirkte an seinem drahtigen Körper wie ein Kartoffelsack. In der Hosentasche fand er ein Smartphone und einen Schlüsselbund mit einem programmierbaren Schlüssel. Ein sicheres System, da der Besitzer des Masterkeys per App steuern konnte, welche Schlösser mit dem Schlüssel geöffnet werden konnten. Außerdem konnte er den Schlüssel jederzeit sperren, sollte er verloren gehen. Das bedeutete, dass der Namenlose nur ein enges Zeitfenster hatte. Sollte der Strippenzieher im Hintergrund Verdacht schöpfen, würde ihm der Schlüssel nichts mehr nützen.

      Er erwog, das Handy hierzulassen, entschied dann aber, dass die Informationen, die er möglicherweise dadurch gewinnen konnte, wichtiger waren als die Gefahr der Überwachung. In der schallisolierten Zelle schien es keine Kamera zu geben. Ob das auch für den Vorraum galt, war zweifelhaft.

      Der Namenlose polsterte das Hemd mithilfe der Decke aus, um zumindest eine ähnliche Statur wie der Dicke zu haben, und ging mit gesenktem Kopf durch den zweiten Raum direkt auf die dicke Stahltür zu, die ihm den Weg nach draußen versperrte. Seine Verkleidung war mehr als improvisiert, aber vielleicht hatte er ja Glück.

      Das Handy in seiner Hosentasche klingelte im selben Moment, in dem er den Schlüssel ins Schloss steckte. Hastig schloss er auf. Mit einem leisen Klacken glitt der Riegel zurück. Die Tür ließ sich öffnen, stieß jedoch auf festen Widerstand. Er lugte durch den schmalen Spalt von ungefähr fünf Zentimetern.

      Spätestens jetzt musste seinem unbekannten Beobachter klar geworden sein, dass er nicht der Dicke war. Das Klingeln des Handys verstummte und setzte wenig später erneut ein. Er ignorierte es. Schemenhaft erkannte er eine Bretterwand. Hatte man den Ausgang versperrt? Das erschien ihm reichlich unlogisch. Eine schwer gesicherte Stahltür, die man nicht verwenden konnte, war ziemlich sinnfrei. Es musste eine Möglichkeit geben, das Hindernis von hier drinnen aus zu beseitigen.

      Sein Blick fiel auf einen altmodischen Doppelschalter neben der Tür. Doch ehe er danach greifen konnte, ging das Licht aus, und das leise Summen der Belüftungsanlage verstummte. Er betätigte dennoch die Schalter. Erwartungsgemäß geschah nichts. Dem Klingeln des Handys in seiner Hosentasche schien etwas Spöttisches anzuhaften. Nach kurzem Zögern fischte er das Gerät heraus und nahm das Gespräch an. „Ja?“

      „Gefällt es dir nicht mehr bei mir, Peter?“, fragte eine tiefe Stimme. Ihr Klang jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Bilder huschten schlaglichtartig an seinem inneren Auge vorbei. Ein jungenhaftes Gesicht grinst über die Kante eines Doppelstockbetts hinweg auf ihn herunter … Der Mann neben ihm raunt: „Lass los“, während eiskalte Gischt in sein Gesicht peitscht und um ihn herum die nachtschwarzen Wogen des Meeres brausen … Zornig blitzen die Augen im bärtigen Gesicht des Mannes, während bleiches Mondlicht seine Haut so fahl wie das Fleisch eines toten Fischs erscheinen lässt. „Wo ist es?“, knurrt er mit heiserer Stimme.

      Der Namenlose schüttelte die Bilder von sich ab. „Vielen Dank für deine Gastfreundschaft“, erwiderte er der Stimme, die fremd und vertraut zugleich klang. „Aber ich brauche meinen Freiraum.“ Er stellte das Handy auf Lautsprecher und steckte es in die Hemdtasche. Anschließend rammte er die Schulter gegen die Tür. Sie stieß mit einem dumpfen Laut gegen den Widerstand. Täuschte er sich oder hatte dieser für einen Moment nachgegeben?

      „Das verstehe ich natürlich“, erwiderte die Stimme sanft. Das Knallen einer Autotür war zu vernehmen, und ein Motor wurde angelassen. „Ich hoffe, du verstehst auch, dass ich dich erst ziehen lassen kann, wenn du mir wiedergegeben hast, was mir gehört!“

      Den Namenlosen überlief eine Gänsehaut. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest“, erwiderte er. „Ich besitze gar nichts!“ Er ging ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. Auf der anderen Seite krachte und schepperte es.

      „Wenn du weiter solchen Lärm machst, bekommst du noch Ärger mit den Nachbarn“, bemerkte die Stimme. „Und glaub nicht, dass du mich durch dein Obdachlosengehabe hinters Licht führen kannst. Du warst schon immer ein Meister der Tarnung. Aber mich kannst du nicht täuschen. Ich kenne deine Abgründe.“

      Der Namenlose rieb sich die schmerzende Schulter. Abgründe? Wovon redete der Kerl? Der einzige Abgrund, der sich in ihm auftat, war das klaffende schwarze Loch in seiner Erinnerung. Er versuchte, sich nicht ablenken zu lassen, und lugte durch den größer gewordenen Spalt. Die Bretterwand war umgestürzt, und wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich dabei um die Rückseite eines Schranks. Nun konnte er auch sehen, dass im Boden Metallschienen eingelassen waren. Offenbar konnte man die Schrankwand verschieben, zumindest wenn man Strom hatte.

      „Du redest im Schlaf, wusstest du das schon?“

      Der Namenlose zuckte mit den Achseln. „Wen interessiert’s?“ Die Schrankwand war groß und schwer, aber wenn er den richtigen Winkel fand, müsste es möglich sein …

      Er umfasste den Türrahmen mit den Händen und presste die Füße gegen das Türblatt. Dann spannte er die Muskeln an und drückte mit aller Kraft. Es knirschte und quietschte, als die Schrankwand Zentimeter um Zentimeter über den

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