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wieder aufzunehmen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass es ihm schlechter gegangen war – und nun war er tot … einfach so.

      „Theo?“, die Stimme von Martha, der korpulenten Pflegekraft, riss ihn aus seinen Gedanken.

      „Ja?“

      „Ich weiß nicht, was mit Keno los ist. Er reagiert überhaupt nicht auf mich, und in einer halben Stunde kommt doch schon der Fahrdienst. Kannst du mal mit ihm reden?“

      „Natürlich.“

      Nach einer hastigen Katzenwäsche kleidete Martha ihn an und setzte ihn mithilfe des Lifters in seinen Rollstuhl.

      Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Ach du meine Güte, in zehn Minuten kommt der Bus, und Keno hat mit seinen Morgenritualen noch nicht mal angefangen. Du weißt, dass er es hasst, wenn wir davon abweichen.“

      Theo nickte. Er durchquerte den Flur und fuhr auf Kenos geschlossene Zimmertür zu. Fast alle Betreuer waren der Ansicht, dass Theo einen besonders guten Draht zu ihm hatte. Nicht selten wurde er deshalb vorgeschickt, wenn Keno „Probleme machte“, wie sie es nannten. Theo gefiel das nicht besonders. Er war äußerst ungern die Geheimwaffe, die gezückt wurde, wenn das Betreuungspersonal nicht weiterkam. Und im Grunde tat er auch gar nichts Besonderes, er versuchte einfach nur, Kenos Verhalten zu verstehen, ihm zuzuhören.

      Keno war in Thailand geboren, lebte aber seit fast zwanzig Jahren in Deutschland. Die ersten sechs Lebensjahre hatte er bei seiner Großmutter verbracht, zwei davon in einem winzigen Bambusverschlag – weggesperrt wie ein wildes Tier, weil seine Großmutter mit ihm überfordert gewesen war. Dann hatte Kenos Mutter ihren Sohn zu sich nach Berlin geholt. Erst hier war die Diagnose Autismus gestellt worden. Lange hatte die Wiedervereinigung von Mutter und Sohn allerdings nicht gedauert. Sein deutscher Stiefvater hatte das Zusammenleben mit Keno nicht mehr ausgehalten und darauf gedrungen, dass er in einer Wohneinrichtung untergebracht wurde. Seitdem war er hier.

      Theo klopfte vorsichtig an. Niemand reagierte. „Keno, ich komme rein, okay?“ Behutsam öffnete er die Tür.

      Die Wände waren weiß gestrichen und vollkommen kahl. Ein Schrank, ein Bett und ein Schreibtisch, das war alles, was Keno akzeptierte. Langsam fuhr Theo in den Raum hinein. Die Reifen seines Rollstuhls quietschten auf dem Linoleumboden. Auf dem Bett lag ein zerrissenes T-Shirt. Keno stand zwischen Bett und Schrank, das Gesicht zur Wand gerichtet. Er hatte beide Hände an die Ohren gepresst und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Dabei bewegten sich seine Lippen, ohne dass ein Laut zu hören war.

      „Keno, nicht erschrecken. Ich bin’s, Theo. Sag mir Bescheid, falls ich wieder verschwinden soll.“

      Keno reagierte nicht. Zumindest konnte Theo keine Reaktion erkennen. „Ich komme ein bisschen näher.“ Er fuhr bis auf etwa einen Meter an Keno heran und wartete ab. Als er das Gefühl hatte, dass sein Mitbewohner ihn registrierte, fragte er: „Hat Lene dir erzählt, was passiert ist?“

      Schweigen.

      „Mike ist letzte Nacht gestorben.“

      Keno gab ein leises Stöhnen von sich. Doch er hörte weder mit dem Schaukeln auf noch nahm er die Hände von den Ohren. Dennoch war Theo sich sicher, dass sein Mitbewohner ihn verstanden hatte. Es gab Leute, die behaupteten, Keno würde sich nur um sich selbst drehen und er habe gar nicht die Fähigkeit, Gefühle für andere Menschen zu entwickeln. Nach Theos Erfahrung war das ausgemachter Blödsinn.

      „Es tut mir so leid“, sagte er. „Mike ist … war mein Freund, und ich kann mir vorstellen –“

      Keno fuhr herum. Erschrocken hielt Theo inne. Das Gesicht des jungen Mannes war aschfahl, und seine Augen waren weit aufgerissen. Seine Lippen bewegten sich immer schneller. Diesmal konnte Theo etwas verstehen. Leise flüsternd sagte Keno immerzu die gleichen Worte. „Der Taucher, der Taucher, der Taucher, der Taucher …“

      „Der Taucher?“ Theo schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das verstehe ich nicht. Was meinst du damit?“

      „Der Taucher, der Taucher, der Taucher, der Taucher …!“ Immer hektischer wurden Kenos Worte. Schweiß perlte von seiner Stirn.

      „Was für ein Taucher?“

      „Der Taucher, der Taucher, der Taucher …“, wiederholte Keno immer lauter und dringlicher. „DER TAUCHER, DER TAUCHER!“

      Die Tür wurde aufgestoßen. Martha warf Theo einen vorwurfsvollen Blick zu. „Der Fahrdienst ist da.“

      Theo schaute in Kenos verzweifeltes Gesicht und dann hinüber zur Tür, in der nun auch der graubärtige Fahrer stand.

      „Na ja“, Theo räusperte sich, „ich glaube nicht, dass Keno heute arbeiten kann.“

      Martha nickte knapp und wandte sich dann an den Fahrer. „Tut mir leid. Keno bleibt heute zu Hause.“

      „Och nee“, murrte der Fahrer. „Immer das Gleiche! Könnt ihr nicht vorher Bescheid sagen? Jetzt hab ich die Tour wieder umsonst gemacht. Ne Leerfahrt krieg ich nicht bezahlt!“

      „Tut mir leid.“ Martha geleitete den Fahrer zur Tür. „Wir hatten hier einen Todesfall.“

      „Beileid“, brummte der Mann. „Aber nächstes Mal vorher Bescheid sagen, ja? Nicht vergessen!“

      „Auf Wiedersehen.“

      Die Tür fiel ins Schloss.

      Keno hatte sich wieder in seine Ecke zurückgezogen. Noch immer konnte Theo ihn flüstern hören. „Der Taucher, der Taucher, der Taucher …“

      Theos Blick fiel auf das zerrissene T-Shirt. Es war schwarz und trug die Aufschrift Navy Seals. Eigentlich war es eines von Kenos Lieblingsshirts.

      Ratlos und traurig verließ Theo den Raum.

      Vandalismus und ein Todesfall

      „Das Haus da drüben ist es.“ Lina deutete auf einen Altbau.

      „Bist du sicher?“, fragte Ben. „Ich kann keine Hausnummer erkennen.“

      Lina seufzte. „Ganz sicher. Mein Bruder wohnt in dieser Straße.“

      „Echt, in der noblen Gegend?“

      „Ja, echt.“

      „Na dann …“ Ben lenkte den Wagen schwungvoll ins Halteverbot und schaltete den Motor aus.

      Lina hob die Brauen.

      „Hey, wir dürfen das. Irgendeine Entschädigung muss es ja dafür geben, dass wir diese spießigen Uniformen tragen.“ Er nahm die Mütze vom Armaturenbrett, drückte sie auf seine Locken und zwinkerte ihr verwegen zu. Sie arbeiteten seit knapp zwei Monaten zusammen, und Ben hatte es immer noch nicht aufgegeben, sie beeindrucken zu wollen.

      Lina verdrehte die Augen und ergriff das Protokoll.

      „Was ist los? Bist du heute früh aus dem Bett gefallen? Gab’s Schweinskopfsülze zum Frühstück? Bewirbst du dich für die Wahl zur grimmigsten Oberwachtmeisterin der Hauptstadt?“

      Lina blickte in sein jungenhaft grinsendes Gesicht und hob die Brauen.

      „Nun komm schon, Lina, sei nicht so grummelig. Freundlich zu gucken, ist gar nicht so schwer. Man muss nur ein paar Muskeln bewegen. Guck mal, so!“ Er grinste sie so übertrieben enthusiastisch an, dass Lina ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.

      „Yes!“ Ben ballte triumphierend die Faust. „Sie hat mich angelächelt. Meine Woche ist gerettet!“

      Lina schüttelte den Kopf. „Können wir jetzt bitte unseren Job machen, Herr Kollege?“ Sie konnte nicht leugnen, dass Ben ein attraktiver Mann war. Er hatte einen durchtrainierten Körper und ein spitzbübisches Lächeln. Lina war sich sicher, dass er sich seines guten Aussehens durchaus bewusst war.

      Sie stieg aus und las den knappen Protokolleintrag. Dies war einer jener typischen Fälle, die mit hoher Wahrscheinlichkeit

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