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Menschen mitbestimmt? Er wusste es nicht. Er wusste nur, wie man überlebt.

      Schritte waren zu hören, und er duckte sich tiefer in sein Versteck. Sie waren zu zweit, schwer atmend unter der Last, die sie trugen. Ein Deckel wurde geöffnet und prallte mit einem dumpfen Laut gegen eine halb gefüllte Plastiktonne. „Na lecker!“, knurrte einer der beiden.

      Der andere kicherte. „Warte ab, bis es Sommer ist, dann tummeln sich da drin so viele Maden, dass du glaubst, die Tonne robbt gleich über den Hof.“

      „Hör auf, Mann, mir wird schlecht.“

      Der andere lachte.

      Ein plätscherndes Geräusch war zu vernehmen. Dann wurde der Deckel zugeklappt.

      „Endlich Feierabend.“

      Die Schritte entfernten sich wieder. „Wie oft wird das Ding eigentlich geleert?“

      „Zweimal die Woche.“

      „Ist das nicht ein bisschen wenig?“

      „Alles eine Frage des Geldes.“

      Der Mann im Schatten wartete, bis er die Tür ins Schloss fallen hörte. Dann kroch er aus seiner Deckung und schlich über den Hof. Er musste schnell sein. Sehr rasch nahmen die Reste den Geschmack der Tonne an – und nicht nur das … Einmal war er zu spät gewesen. Trotz des säuerlichen Geschmacks hatte er das Fleisch gegessen. Zwei Tage lang hatte er keinen Bissen Brot und keinen Schluck Wasser bei sich behalten, und anschließend war er über eine Woche lang so geschwächt gewesen, dass er sich kaum auf den Beinen hatte halten können.

      Er klappte den Deckel auf. Es dampfte, das Geschnetzelte war noch warm. Er ignorierte die dunklen Verkrustungen an den Wänden und griff in die Mitte der Tonne. Hungrig stopfte er die Fleischbrocken in sich hinein. Es störte ihn nicht, dass die braune Soße seinen Ärmel beschmutzte und in seinen Bart rann. Es war warm und sättigte ihn.

      „Hey!“

      Er fuhr herum. Eine hohe, breitschultrige Gestalt trat in den Hof. Wo kam der Typ auf einmal her?

      Der Unbekannte machte einen Schritt vorwärts – es war der Mann, der aus dem Nobelrestaurant herausgekommen war. „Was wollen Sie hier?“

      Der Fremde kam näher. Er trug einen teuren Kaschmirmantel, an seinem Finger schimmerte ein goldener Ehering. „Peter, bist du das?“ Die Augen des Mannes weiteten sich.

      Der Namenlose starrte ihn an. Kannte der Typ ihn wirklich? Oder verwechselte er ihn? In ihm jedenfalls regte sich keine Erinnerung. Seine Vergangenheit blieb hinter grauen Nebeln verborgen. „Hören Sie, ich kenne Sie nicht …“, setzte er an. Erst da bemerkte er den Schlagstock in der Hand seines Gegenübers. Seine Muskeln zuckten, wollten eine Abwehrhaltung einnehmen, doch es war zu spät.

      Helle Lichter flammten auf, dann wurde es schwarze Nacht.

      Nacht

      Theo schlug die Augen auf. Unwillkürlich lauschte er. Etwas hatte ihn geweckt – etwas Beunruhigendes. Ein leises Brummen lag in der Luft, doch sonst war alles still. Mit der Benommenheit des gerade Erwachten versuchte er zu begreifen, was ihn aufgeschreckt hatte. Doch die Erinnerung verblasste so rasch wie ein Traumbild in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.

      Wo bin ich hier überhaupt? Theo blinzelte ein paarmal und starrte in das verschwommene Zwielicht des Raums. Ohne Brille war er aufgeschmissen. Gedämpftes orangerotes Licht zeichnete bizarre Muster an die weiße Decke. Ein Schweißtropfen rann ihm über die Stirn. Es war warm, und er hatte seine Atemmaske nicht auf. Irgendetwas stimmte hier nicht.

      Theo tastete nach seiner Brille. Zu dumm, dass sein Bewegungsradius mittlerweile auf einen knappen halben Meter eingeschränkt war. Anstelle seines Nachttisches ertastete er nur weiche Kissen. Mühsam drehte er den Kopf. Die Matratze unter ihm bewegte sich und blubberte leise. Neben ihm lag etwas, das verdächtig nach einem Plüschherz aussah.

      Das ist nicht mein Bett, ging es ihm durch den Kopf. Ich muss auf dem Wasserbett im Snoezelenraum eingeschlafen sein.

      Er versuchte, seine trägen Synapsen in Bewegung zu bringen. Gestern Abend hatten die Mitglieder seiner WG ihren monatlichen Karaoke-Abend zelebriert. Theo mochte seine Mitbewohner, er mochte sie sogar sehr. Aber Singen, im Sinne der korrekten Wiedergabe einer vorgegebenen Melodie, zählte nicht zu ihren Begabungen. Im Snoezelenraum war man vor den akustischen Konsequenzen dieses Events einigermaßen sicher. Deshalb hatte er sich aufs Wasserbett legen lassen. Wie spät es wohl war? Er linste in Richtung Uhr. Es war drei Uhr – mitten in der Nacht. Die haben mich hier vergessen.

      Ungünstigerweise hatte das Blubbern des Wasserbetts eine inspirierende Wirkung. Er spürte seine volle Blase.

      „Hallo?“, rief er. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Wahrscheinlich hatte er geschnarcht wie ein komatöser Seeelefant. „Hallo!“

      Waren da Schritte im Flur zu hören? Er war sich nicht sicher.

      Angestrengt lauschte er – nichts. Er musste sich getäuscht haben.

      Auch auf die Gefahr hin, seine Mitbewohner zu wecken, holte er tief Luft und rief: „Ich bin hier im Snoezelenraum!“

      Er hörte eine Tür knarren.

      Na endlich, fuhr es ihm durch den Sinn. Dann geschah zwei Minuten lang nichts.

      Theo seufzte. Dann brüllte er: „Sorry, aber meine Blase platzt gleich!“

      Stille. Theo tastete nach dem Notruf und fand ihn schließlich unter dem Plüschkissen. Im Grunde war es kein richtiger Notruf, eher ein Funkgong, wie er in einer Gartenlaube Verwendung findet. Aber er erfüllte seinen Zweck genauso gut und war erheblich preiswerter. Theo drückte den Knopf.

      Stille.

      Mist! Vielleicht war die Batterie leer? Er drückte noch mal.

      Eine gefühlte Ewigkeit später hörte er erneut eine Tür knarren. Diesmal waren die Schritte im Flur deutlich zu vernehmen. „Was ist los?“, fragte eine Stimme mit osteuropäischem Akzent, sie wirkte nervös.

      „Ich bin hier im Snoezelenraum!“

      „Wo?“

      „Gleich neben dem Büro!“

      Das Licht wurde eingeschaltet. Theo kniff die Augen zusammen. In der Tür stand ein junger Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Doch das war nicht das Merkwürdigste. Der Unbekannte schien einen Schatten zu haben, der sich bewegte, obwohl der Mann selbst still dastand. Theo kniff die Augen zusammen. Als er sie erneut öffnete, blieb der Typ ein Fremder, aber zumindest war sein Schatten verschwunden.

      „Wer … bist du?“, fragte ihn der Mann und kam näher. Theo konnte sein junges, blasses Gesicht erkennen, aus dem ihn große Augen anstarrten. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und ein Headset lag um seinen Hals wie ein spätmittelalterlicher Sklavenring.

      „Ich bin Theo.“

      Der junge Mann schien noch blasser zu werden. „Du … bist Theo?“ Er blickte sich nervös um, als erwarte er, jeden Moment mächtig Ärger zu bekommen.

      „Ja.“ Theo lächelte nachsichtig. Der Mann war nicht ohne Grund besorgt. Wenn herauskam, dass er einen seiner Schützlinge schlicht vergessen hatte, würde ihm das eine Abmahnung einbringen. Zumal dieses Vergessen in Theos Fall nicht ganz ungefährlich war. „Ich nehme an, du bist die Nachtwache?“, fragte Theo freundlich.

      Der junge Mann starrte ihn an. Irgendwo klapperte eine Tür. Er zuckte zusammen und stammelte: „Mein … mein Name ist Marek. Ich komme von der Leasingfirma. Meine Kollegin ist krank, und ich bin spontan eingesprungen.“

      „Herzlich willkommen, Marek. Es tut mir leid, aber ich muss mal pinkeln. Dringend!“

      „Okay …“ Der Mann schien durch Theo hindurchzublicken.

      „Wäre schön, wenn du mir die Ente reichen könntest. Die ist im Pflegebad, zwei Türen

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