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Muskeldystrophie. Eine Mutation in Theos Genen verursachte eine mangelhafte Produktion von Proteinen, was eine gravierende und stetig zunehmende Muskelschwäche zur Folge hatte. Erst mit dreieinhalb Jahren hatte Theo mühsam das Laufen erlernt. Ab dem fünften Lebensjahr benötigte er Krücken, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Zwei Jahre später konnte er sich nur noch mithilfe eines Rollators fortbewegen. Seit dem achten Lebensjahr saß er im Rollstuhl. Und seit seinem zwanzigsten Geburtstag vor drei Monaten benötigte er einen Elektrorollstuhl, weil das Antreiben der Räder für ihn zu schwer geworden war.

      Theo war bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen. Nachts litt er unter Schlafapnoe. Bedingt durch seine Erkrankung erschlaffte die obere Ringmuskulatur seiner Atemwege so stark, dass sie die Luftröhre verschloss. Es kam kein Sauerstoff mehr in seine Lunge, und der CO2-Partialdruck im Blut stieg deutlich an. Theo drohte in Ohnmacht zu fallen, was dazu führte, dass sein Körper unbewusst eine Weckreaktion auslöste. Er schreckte auf, schnappte nach Luft, schlief wieder ein und der ganze Spaß begann von vorn. Am nächsten Morgen wachte er dann völlig erschöpft auf und fühlte sich müder als am Abend zuvor. Nacht für Nacht bestand die Gefahr, dass sein eigener Körper ihn erstickte. Deshalb musste er eine Atemmaske tragen. Sie erhöhte den Luftdruck und verhinderte, dass sich seine Atemwege schlossen. Das war nur bedingt bequem und sah auch nicht besonders elegant aus. Aber es rettete ihm das Leben.

      Marek kam wieder herein. Er hatte ungewöhnlich lange gebraucht, war nun aber etwas weniger blass. Theo erleichterte sich in die Urinflasche, die wegen ihrer Form umgangssprachlich Ente genannt wird. Er war es gewohnt, dass weitgehend fremde Personen ihn bei seinen intimsten Verrichtungen unterstützen mussten.

      „Ich will auf keinen Fall vorwurfsvoll rüberkommen, aber ist dir nicht aufgefallen, dass mein Zimmer leer ist?“, erkundigte sich Theo.

      Marek zuckte mit den Achseln und murmelte: „Ich –“ Er verstummte.

      „Ja?“

      „Ich … wollte dich nicht stören.“

      Theo riss die Augen auf. War das sein Ernst? Schließlich räusperte er sich und erwiderte: „Das ist im Grunde genommen sehr nett von dir. Allerdings brauche ich nachts eine Atemmaske. Ich leide unter Schlafapnoe.“

      „Ich dachte, der andere …“, Marek wedelte mit der Hand Richtung Flur, „… braucht so’n Ding.“

      „Ja, Mike auch, allerdings erst seit Kurzem. Wir haben beide eine ähnliche Erkrankung.“

      Der Mann nickte geistesabwesend und wollte sich abwenden.

      „Warte.“ Theo hasste es, anderen zur Last zu fallen. Aber er hatte keine andere Wahl. „Es wäre nett, wenn du mich noch in mein Zimmer bringen könntest. Vielleicht kann ich dann noch ein bisschen schlafen.“ Er verkniff es sich zu ergänzen: Außerdem beruhigt es mich irgendwie, wenn ich weiß, dass ich nicht im Schlaf ersticken werde. Stattdessen fügte er hinzu: „Wir haben einen mobilen Lifter im Pflegebad, damit geht das ganz gut.“

      „Okay.“ Marek nickte und schien schon wieder mit den Gedanken woanders zu sein. „Warte hier.“

      „Ich verspreche, dass ich nicht weglaufen werde.“

      Marek schien nicht allzu viel Erfahrung mit dieser Art von Liftersystem zu haben. Theo erklärte ihm geduldig jeden einzelnen Handgriff. Er hatte sich daran gewöhnt, seine Helfer einweisen zu müssen. In letzter Zeit wurden immer mehr Leasingkräfte eingesetzt, die nur für ein paar Wochen, manchmal sogar nur tageweise im Einsatz waren und dann wieder verschwanden.

      Es dauerte weit über eine halbe Stunde, bis Theo endlich in seinem eigenen Bett lag und seine Atemmaske trug. Nicht ganz unschuldig daran war der Umstand, dass Marek wirkte, als wäre er nur mit halbem Gehirn bei der Sache.

      Mit einem gemurmelten „Nacht“ verließ der junge Mann schließlich das Zimmer, und Theo blieb allein zurück.

      Das vertraute Schnaufen des Atemgeräts hatte etwas Beruhigendes an sich.

      Theo schloss die Augen. Alles wieder im Lot, dachte er zufrieden.

      Er musste schließlich eingeschlafen sein. Denn als die Tür gegen die Wand knallte und eine Hand ihn grob an der Schulter rüttelte, drang bereits die Morgensonne durch die dünnen Vorhänge.

      „Theo! Theo, wach auf!“ Ein verschwommenes rundliches Gesicht schob sich in sein Blickfeld. „Theo! Es is wat janz Schlimmet passiert. Der Miky is tot.“

      Am Morgen

      „Was hast du gesagt?“, stammelte Theo.

      „Der Miky is tot“, schluchzte Lene. Er konnte ihren schnaufenden Atem hören, als sie näher kam. Bei einer Körpergröße von 1,57 Meter und einem Gewicht von 120 Kilo geschah es nicht selten, dass sie nach Luft rang. Doch dieses Mal lag es daran, dass sie weinte.

      Lene stand neben seinem Bett und griff nach seiner Hand. Er konnte ihr gutmütiges Gesicht dicht neben sich sehen. Helene Schmidt war die älteste Mitbewohnerin der WG. Vermutlich war das der Grund, warum sie mit Vorliebe die mütterliche Rolle übernahm.

      „Miky liegt in sein Bett und atmet nich mehr. Die Martha hat ihn heute früh jefunden. Sie hat gleich jesehn, dassa tot is, und hat jarnich mehr versucht, ihn zu remarmorieren.“

      „Reanimieren“, verbesserte Theo instinktiv. Im nächsten Moment schämte er sich für seine Besserwisserei. Helene war ein herzensguter Mensch. Dass Fremdwörter nicht zu ihrem Spezialgebiet gehörten, war ganz gewiss nicht ihr Fehler.

      Aber sie war ohnehin zu verstört, um auf seine Reaktion zu achten. „Ick glaub, dit war ’n Anfall.“

      „Ein Anfall?“ Theo schüttelte den Kopf. Mike war kein Epileptiker. Er litt unter Amyotropher Lateralsklerose, kurz ALS, der gleichen Nervenerkrankung, an der auch der berühmte Physiker Stephen Hawking gestorben war. Manchmal bekam Mike schwere Muskelkrämpfe. Sie mochten einem epileptischen Anfall ähneln, waren aber mit Sicherheit nicht tödlich. Noch während Theo das dachte, ärgerte er sich über sich selbst. Was spielte es für eine Rolle, woran Mike gestorben war? Er war tot, und das war schrecklich.

      „Martha glaubt, dass der Miky schon vor ein paar Stunden jestorben is, weil der schon so doll starrt“, bemerkte Helene kummervoll.

      „Er starrt?“

      „Ja, am janzen Körper“, bestätigte sie.

      „Du meinst: Die Totenstarre hat eingesetzt.“

      „Jenau.“ Helene nickte. „Der arme Mike.“

      „Ja.“ Eine Zeit lang lag Theo schweigend da und starrte an die Decke. Er fühlte sich leer und schrecklich hilflos. Schließlich sagte er leise: „Danke, Lene, dass du zu mir gekommen bist.“

      „Is doch klar.“ Sie tätschelte seine Wange. „Is ja nich fair, wenn du nischt weißt, nur weil du nich loofen kannst.“ Sie nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. „Ick jeh mal den andern Bescheid sagen. Die wissen dit ja noch nich.“

      Sie wandte sich ab und schlurfte schnaufend aus dem Zimmer.

      Theo sah ihr nach. Ihre kleine runde Gestalt verschwamm zu einem blassen Fleck, und das lag nicht nur an Theos Kurzsichtigkeit. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.

      Mike war tot. Wie war das möglich? Gestern hatten sie noch zusammen gelacht. Es war ihm gut gegangen. Die ganze Wohngemeinschaft hatte zusammen auf der Terrasse gesessen und gegrillt. Mike hatte es sogar geschafft, seine Bratwurst ohne Hilfe zu essen. Zumindest nachdem Paul sie ihm geschnitten und auf den Therapietisch gestellt hatte, der an Mikes Rollstuhl befestigt war und über die Armstützen geklappt werden konnte.

      Während Theo mühsam seinen gegrillten Maiskolben abgeknabbert hatte, waren Lene in derselben Zeit dreizehn Bratwürste, fünf marinierte Schweinerückensteaks und unzählige Portionen Kartoffelsalat zum Opfer gefallen. Für den Rest der Gruppe war nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Sie hatte es nicht böse gemeint – das tat sie nie. Im

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