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      „Ich gebe zu, es war nicht ganz fair, schließlich war ich älter. Aber der Typ war ein Sitzenbleiber und genauso groß wie ich. Er und seine Gang haben Theo richtiggehend gemobbt, sie nannten ihn Spasti, äfften ihn nach und schikanierten ihn heimlich. Da sind meine Beschützerinstinkte ein bisschen mit mir durchgegangen.“

      Ben kratzte sich verwirrt am Kinn. „Du hast ihn beschützt, und zum Dank legt er dir eine Nacktschnecke ins Bett?“

      „Charmant, nicht wahr?“ Lina schmunzelte. „Er sagte mir, dass sie ihn jetzt umso mehr hassen würden und dass ich ihm jede Chance genommen hätte, das Problem selbst zu lösen.“

      „Oh, ganz schön tough, dein Bruder.“

      Lina lächelte. Eine solche Erkenntnis hätte sie Ben gar nicht zugetraut. Vielleicht steckte doch mehr in ihm, als es den Anschein hatte. „Was hältst du von der ganzen Sache?“

      „Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich habe vorhin kurz mit der Betreuerin …“, er warf einen Blick in sein Notizbuch, „… Martha Nowak gesprochen.“

      „Und?“

      „Sie schätzt das ähnlich ein wie der Arzt. Die Erkrankung des Verstorbenen war fortgeschritten. Besonders in den letzten Monaten hatte es heftige Schübe gegeben. Übrigens war sie es auch, die die Leiche gefunden hat. Die Übergabe mit der Nachtwache sei sehr kurz gewesen, weil Keno – ich zitiere – komplett ausgerastet sei. Etwa gegen 6.40 Uhr, als es an der Zeit gewesen sei, die Bewohner zu wecken, habe sie Mike Lörke leblos in seinem Bett vorgefunden. Sie habe erst die Polizei angerufen und dann die Eltern des Verstorbenen benachrichtigt.“

      „Ist ihr sonst noch etwas aufgefallen?“, hakte Lina nach. „Irgendetwas Außergewöhnliches?“

      Ben schürzte die Lippen. „Eigentlich nicht. Warum fragst du?“

      „Theo glaubt, dass hier irgendetwas nicht stimmt.“

      „Und du?“, fragte Ben.

      Die Tür von Mikes Zimmer öffnete sich und Dr. Behrends trat in den Flur hinaus. Lina stand auf und fragte: „Nun, was haben Sie herausgefunden?“

      „Atemstillstand infolge einer geschwächten Atemmuskulatur“, erwiderte der Arzt. „Eine der häufigsten Todesursachen bei Menschen mit amyotropher Lateralsklerose. Ich werde den Totenschein entsprechend ausstellen. Seien Sie doch so freundlich und geben Sie der Mitarbeiterin Bescheid, ja? Ich habe leider einen dringenden Patiententermin.“ Er rauschte an den beiden vorbei. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Es tut mir leid, dass Sie Ihre Zeit hier vergeudet haben. Auf Wiedersehen.“

      „Tschüss“, erwiderten die Polizisten.

      Die Tür schloss sich.

      „Tja, das war’s dann wohl“, meinte Ben.

      „Sieht ganz danach aus.“ Lina nagte an der Unterlippe.

      „Das nimmt dich ganz schön mit, oder?“ Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter.

      Es war ihr nicht unangenehm. „Mike … war ein netter Kerl.“

      „Brauchst du ’ne Auszeit? Ich kann die Schicht auch allein beenden.“

      Lina warf ihm einen irritierten Blick zu.

      „Sorry“, murmelte Ben. Der Druck seiner warmen Hand verschwand.

      Vergangenheit

      Es fühlte sich an, als wäre nicht nur sein ganzer Körper, sondern auch sein Gehirn in Watte gepackt. Er hörte etwas, konnte die Geräusche aber nicht zuordnen. Er blinzelte. Seine Augenlider waren verklebt und juckten. Doch als er darüberreiben wollte, stellte er fest, dass er seine Hände nicht bewegen konnte. Irgendetwas hielt sie fest. Wie durch dichten Nebel hindurch drang ein Schmerz in sein Bewusstsein. Instinktiv wollte er gegen die Umklammerung ankämpfen, doch eine Stimme in seinem Inneren mahnte ihn: Warte! Bleib ruhig.

      Die Stimme war alt. Sie stammte aus der Zeit, als er noch einen Namen gehabt hatte. In all den Jahren hatte er sie nur sehr selten und undeutlich vernommen. Irgendetwas musste sie wachgerufen haben. Er erinnerte sich an Schmerz, Todesangst und daran, dass jemand ihm immer und immer wieder die gleiche Frage stellte. „Wo ist es? Wo ist es?“

      Der Mann ohne Namen versuchte, sich aufzurichten – vergeblich. Warte, mahnte die Stimme in ihm. Erst beobachten, dann analysieren, dann handeln.

      Er kniff die Augenlider zusammen, bis Tränenflüssigkeit die verklebten Stellen löste. Blinzelnd blickte er sich um. Er lag in einem alten Krankenhausbett. Seine Handgelenke waren mit Kabelbindern an die Stahlrohre des Bettgestells gefesselt. In seinem Arm steckte eine Kanüle, die mit einem Infusionsbeutel verbunden war. Ihm war kalt. Unter der alten Wolldecke, die jemand achtlos über ihn geworfen hatte, war er offenbar nackt. Neben dem Bett stand ein mit beigebraunem Kunstleder bezogener Drehstuhl. Etwas abseits sah er einen abgenutzten Schrank aus grau lackiertem Blech und einen Metalltisch, der auch in einem Operationssaal hätte stehen können, wären da nicht die massiven Befestigungsschnallen für Arm- und Fußgelenke.

      Der Namenlose schluckte trocken. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Furcht schnürte ihm die Kehle zu.

      Atme ruhig, befahl ihm die Stimme. Denk daran: Beobachten, analysieren, handeln. Er ließ seinen Blick weiterwandern. Die Wände waren grau und trugen ein seltsames Muster. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass sie mit Schaumstoff verkleidet waren. Schallisolierung, ging es ihm durch den Kopf. Im Gesamtkontext war das kein ermutigendes Detail.

      Die Tür war mit dem gleichen Material verkleidet und wäre nicht zu erkennen gewesen, hätte sie nicht einen Spalt offen gestanden. Draußen sprach jemand. Hin und wieder waren Schritte zu hören. Da lief jemand auf und ab – nervös, wütend, angespannt. „… warum meldest du dich erst jetzt?!“, vernahm er undeutlich eine Stimme. Erneut Schritte. Die Stimme sprach wieder, war aber zu leise für ihn, um sie verstehen zu können.

      Was soll das alles?, ging es ihm durch den Kopf. Warum bin ich hier?

      Der Namenlose versuchte, seine letzten Erinnerungen hervorzukramen. Er war im Hinterhof des Restaurants gewesen. Ein Mann war plötzlich aufgetaucht: groß, breitschultrig, schütteres Haar. Er hatte ihn Peter genannt. Und dann? War da nur noch grauer Nebel …

      Der Breitschultrige hatte geglaubt, ihn erkannt zu haben. Hatte ihn seine verschüttete Vergangenheit mit diesem Typen eingeholt oder war es eine Verwechslung gewesen?

      Peter. Er versuchte, der Wirkung dieses Namens nachzuspüren. Doch er löste keinen Widerhall in ihm aus.

      Hör auf damit!, blaffte die Stimme in seinem Inneren. Konzentrier dich auf das Wesentliche! Sein Hirn arbeitete fieberhaft, während seine Augen durch den Raum huschten und versuchten, jedes Detail wahrzunehmen. Eine Kamera war nirgends zu sehen, kein Laptop, kein Smartphone, keine Uhr. Nirgendwo war Technik zu erkennen. Die Einrichtung des Raums war alt, aber der Stil war ihm nicht unvertraut. Diese Gegenstände entstammten einer Zeit, in der er noch jung gewesen war.

      Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf: ein Schlafsaal, junge Gesichter, rasierte Schädel und graue Uniformen … Unwichtig!, bellte die Stimme in ihm. Konzentrier dich! Stell die wesentlichen Fragen.

      Er betrachtete die Kanüle und die Infusionsnadel. Warum bin ich wach? Sein Blick wanderte den Infusionsschlauch entlang nach oben. Der Beutel war voll. Aber keine Flüssigkeit rann durch den durchsichtigen Plastikschlauch. Die Stellschraube war nicht gelöst worden. Mit Absicht? Er blickte wieder zur leicht geöffneten Tür. Oder jemand war bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Wie auch immer – einfach abzuwarten, war die schlechteste aller Optionen.

      Versuchsweise zog er an seinen Fesseln. Das alte Bettgestell klapperte. Sofort hielt er inne. Es wäre fatal, wenn seine Bewacher mitbekämen, dass er bei Bewusstsein war. Sein Blick fiel auf die Kanüle. Rohe Gewalt war nicht die einzige Möglichkeit, die Fesseln

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