Скачать книгу

wo sein Ärmel hängt.

      „Aber mir nicht“, stieß Theo zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wenigstens etwas, was ich für ihn tun kann.“

      Endlich hatte er es geschafft. Es sah nicht so ordentlich aus, wie Mike es sich gewünscht hätte, aber besser bekam er es nicht hin.

      Theo legte den Greifer zurück auf den Rollstuhltisch. Ein kleiner Schweißtropfen rann ihm von der Stirn in die rechte Augenbraue. „So ist es besser“, schnaufte er zufrieden.

      Sein Blick fiel auf den bleichen Arm des Toten. Da war etwas Seltsames. Eine winzige, leicht bläuliche Wölbung in der Armbeuge. Theo beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. In der Mitte der Wölbung befand sich ein rötlicher Punkt.

      „Seltsam“, murmelte er. Das sah ganz danach aus, als habe man Mike Blut abgenommen oder ihm etwas in die Vene gespritzt. Theo biss sich auf die Unterlippe. Woher kam das? War Mike in den letzten Tagen beim Arzt gewesen?

      Eine seltsame Unruhe erfasste ihn. Nach einem letzten Blick auf den Toten schaltete er den Motor wieder ein und verließ den Raum. Die Zimmertür ließ sich per Taster schließen.

      Theos Gummireifen quietschten auf dem Linoleumbelag des Flurs. Er ertappte sich dabei, wie er unbewusst den Atem anhielt, als fürchte er, beobachtet zu werden. Dabei tat er doch gar nichts Verbotenes – bis jetzt.

      Das Büro war nicht abgeschlossen. Er atmete tief durch und fuhr zum Schreibtisch. Der Bildschirmschoner zeigte Bilder von Marthas sechs Monate alter Enkelin – kleine Wurstfingerchen und ein breites zahnloses Grinsen.

      Es dauerte einen Moment, bis es Theo gelang, die Tastatur mithilfe des Greifers auf den Rollstuhltisch zu ziehen.

      Er drückte Strg-Alt-Entf.

      Der Computer verlangte das Passwort. Theo tippte daria ein.

      Falsch.

      Er kniff die Lippen zusammen und versuchte, sich an die Vorgaben der IT zu erinnern, die vor einiger Zeit die Runde gemacht hatten. Dann tippte er Daria2020.

      Die Festplatte fing an zu rattern. Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. Das war leicht gewesen. Als Marthas Account hochgefahren war, öffnete er die Pflegedokumentation und klickte auf „Mike Lörke“. Es dauerte eine Weile, bis er sich durch die Eintragungen gescrollt hatte. Der letzte Arztbesuch von Mike lag über vier Wochen zurück. Der Einstich im Arm konnte unmöglich so alt sein.

      Theo öffnete den Medikationsbogen. Wie er selbst hatte auch Mike eine ganze Reihe von Medikamenten erhalten. Keines der regelmäßig verabreichten Medikamente wurde intravenös injiziert, aber wie war es mit der Notfallmedikation? Da es im Zuge seiner Erkrankung zu Atemnot und damit auch zu Angstzuständen kommen konnte, hatte der Arzt Mike Lorazepam verordnet. Laut Beschreibung in der Dokumentation sollte es oral eingenommen werden – Theo scrollte sich weiter durch den Medikationsbogen –, und zwar in Form von Tabletten. Damit schied eine intravenöse Verabreichung aus.

      Es dauerte einen Moment, bis das Geräusch, das sein Unterbewusstsein längst registriert hatte, auch in seinem Bewusstsein ankam. Er griff gerade nach dem Joystick, um den Rollstuhl zu wenden, als eine Stimme ihn erschrocken zusammenzucken ließ.

      „Was machst du da?“

      Martha stand hinter ihm.

      Hastig klickte Theo auf „Abmelden“. „Sorry … Ich hab nur was gecheckt. Alles okay in der Zweiten?“

      Der Rechner warnte, dass noch Programme geöffnet seien und Daten verloren gehen könnten. Hastig bestätigte Theo seinen Befehl. „Das Büro ist nur für die Mitarbeiter, das weißt du doch!“

      „Ja, ich weiß.“ Erleichtert registrierte Theo, dass auf dem Bildschirm nur noch das Anmeldefenster zu sehen war. Er wandte sich Martha zu, vermied es aber, ihr in die Augen zu sehen. „Aber hier im Büro habt ihr eine LAN-Verbindung, und bei uns spinnt das W-LAN ständig.“ Das war zwar nicht falsch, hatte aber herzlich wenig mit dem eigentlichen Grund für Theos Anwesenheit in diesem Raum zu tun.

      „Theo, bitte halte dich an die Regeln!“

      „Okay, okay.“

      „Mist!“ Martha stand inzwischen am Schreibtisch und wühlte in einem altmodischen Karteikasten. „Du weißt nicht zufällig, wo die Notfallnummer vom Chef ist?“

      „Seine Karte hängt an der Pinnwand.“

      „Danke!“ Sie ergriff hastig das Telefon und wählte.

      Theos Gedanken kreisten. Woher kam dieser Einstich in Mikes Arm? War ihm vielleicht das falsche Medikament verabreicht worden? Oder das richtige Medikament auf die falsche Art und Weise?

      Vom Flur her drang Kenos aufgeregte Stimme herein. „Der Taucher, der Taucher, der Taucher!“

      „Oh Keno. Jetzt nicht“, rief Martha, während sie das Telefon zwischen Ohr und Schulter klemmte.

      Theo fuhr zur Tür. Er musste irgendwo in Ruhe nachdenken.

      „Hallo, Herr Teriete“, sagte Martha. Zeitgleich stieß Keno draußen im Flur einen unartikulierten Schrei aus. Es wummerte, als würde er gegen die Wand schlagen. „Einen Moment!“, bat Martha, zwängte sich an Theo vorbei und eilte in den Flur. „Keno, was soll denn das?“

      Ein schriller Schrei war die Antwort.

      „Geh bitte in dein Zimmer. Nein, nicht beißen, Keno, geh in dein Zimmer und beruhige dich.“

      Eine Tür wurde zugeschlagen.

      Theo fuhr ebenfalls in den Flur, Martha kam ihm mit eiligen Schritten entgegen und sprach in den Hörer: „Nein, nicht wegen Keno. Die kleine Hanna aus der Zweiten hatte schon wieder einen epileptischen Anfall. Wir haben ihr schon zum zweiten Mal Diazepam gegeben, aber sie ist immer noch so unruhig …“

      Martha verschwand wieder im Büro. In Kenos Zimmer krachte es. Er schrie, dann sprach er halblaut vor sich hin: „Weg, er ist weg, weggegangen … WEG …“

      Theo wusste aus Erfahrung, dass jeder noch so gut gemeinte Versuch, jetzt mit Keno zu sprechen, nach hinten losgehen würde.

      „Aber was sollen wir denn machen? Wir sind komplett unterbesetzt!“, rief Martha gerade aufgebracht ins Telefon.

      Theo hatte das Gefühl, sein Kopf würde gleich platzen. Er musste raus hier! Kurzentschlossen verließ er die Wohnung.

      Im Aufzug schickte er mit dem Handy eine kurze Nachricht an Martha. Damit sie sich keine Sorgen machte.

      Zum Glück war der Stadtpark nicht weit entfernt. Während er seine Runden auf dem Spazierweg drehte und sich alle Mühe gab, den vorbeihastenden Joggern nicht in die Quere zu kommen, wanderten seine Gedanken zurück zu Mikes Leichnam.

      Dieser Einstich ließ ihn nicht los. War er dem Arzt nicht aufgefallen? Dr. Behrends war ja nur ein paar Minuten im Zimmer gewesen. Vielleicht hatte er einfach das Naheliegendste diagnostiziert, um schnell zu seinem nächsten Termin zu kommen. Mike hatte ALS gehabt und nun war er gestorben. Das Unvermeidliche war eingetreten, vielleicht ein wenig früher als erwartet. Aber so etwas geschah nun mal. Warum also kostbare Zeit auf jemanden verschwenden, dem ohnehin nicht mehr zu helfen war?

      Theo spürte, wie Wut in ihm hochkochte, und gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er gerade vorschnell urteilte. Er war nicht dabei gewesen. Weder hatte er dem Arzt über die Schulter geschaut noch konnte er Gedanken lesen. Bislang hatte er nichts außer Unterstellungen vorzuweisen. Zumindest würde eine neutrale Person das so beurteilen.

      Im Grunde war klar, was als Nächstes zu tun war. Er musste dafür sorgen, dass Mikes Leichnam noch einmal untersucht wurde.

      Theo wendete und fuhr zurück zu seiner Wohnung. Aus der Ferne sah er einen schwarzen Lieferwagen, der in zweiter Spur parkte. Vielleicht eine Paketlieferung oder ein Handwerker? Obwohl diese Leute eigentlich eher weiße Wagen fuhren – warum auch immer.

      Als er noch etwa sechzig Meter entfernt war, konnte er die Aufschrift entziffern: Sargdiscount-Berlin.de stand

Скачать книгу