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die Katzen.“

      „Verstehe.“ Lina unterdrückte ihre Enttäuschung. Was hatte sie erwartet?

      „Ich könnte jetzt noch einen Keks vertragen.“

      „Paula, ist dir an Mike irgendetwas Besonderes aufgefallen? Ich meine, war er anders in letzter Zeit, hat er irgendetwas Ungewöhnliches gesagt?“

      Ein Lächeln huschte über Paulas verweinte Züge. „Mike war süß. Er hat gesagt, er findet mich hübsch.“

      Lina betrachtete das Gesicht der jungen Frau. Sie hatte ein niedliches Lächeln. Tat sich da möglicherweise doch noch eine Spur auf?

      „War er in dich verliebt?“, hakte sie nach.

      Paula warf sich schwungvoll die langen Haare über die Schulter. „Ja.“ Sie nickte ernst.

      „Bist du dir sicher?“

      „Klar.“ Ärger blitzte in ihren Augen auf.

      „Hat er das gesagt?“

      „So was merkt man doch.“

      „Und, warst du auch in ihn verliebt?“

      „Ich?“ Paula schniefte, linste in die leere Keksschüssel, presste verärgert die Lippen zusammen und erwiderte dann: „Nee, nicht so richtig. Der Miky war schon süß, aber ich war nicht in den verknallt oder so.“

      „Und war Mike deshalb traurig?“

      Paula nickte. „Bestimmt.“

      Lina kniff zweifelnd die Augen zusammen.

      „Der war bestimmt voll traurig.“ Paula klang aufrichtig betroffen. „Und jetzt bin ich traurig.“ Erneut traten Tränen in ihre Augen. Sie schüttelte energisch den Kopf. „Aber das Leben muss ja weitergehen. Wir haben bald Premiere, willst du eine Freikarte?“

      „Äh, das ist wirklich lieb von dir, Paula, aber ich muss erst mal arbeiten.“ Lina räusperte sich. „Sag mal, hast du hier in der WG schon mal eine Spritze gesehen?“

      „Du meinst, wie beim Arzt?“

      „Ja.“

      Paula schüttelte den Kopf. „Hier kriegt keiner Spritzen. Zum Glück! Ich hab nämlich Angst vor Spritzen. Mama sagt, ich hab bestimmt ’n Trauma, weil ich als kleines Kind einmal im Krankenhaus wie verrückt geschrien habe, als der Arzt mich gepiekt hat. Wie ein Spieß hab ich geschrien, hat sie gesagt.“

      „Ich verstehe. Vielen Dank, Paula. Du hast mir sehr geholfen.“

      „Null Problemo. Soll ich noch mehr Fragen beantworten?“

      „Nein, danke, das war’s erst mal.“

      „Dann schick ich dir jetzt den Keno.“

      „Nein, danke.“

      „Kann ich ruhig machen. Ich bin nett!“

      „Ich weiß.“ Lina lächelte. „Aber ich glaube, es ist besser, ich besuche ihn.“

      „Na gut.“ Die junge Frau huschte aus dem Raum.

      Seufzend erhob sich Lina. Keines der Gespräche hatte Theos Verdacht irgendwie bestätigt. Und dass Mike sich aus Liebeskummer selbst etwas angetan hatte, war eine mehr als waghalsige Theorie.

      Keno saß an seinem Schreibtisch und zeichnete. Es schien ihn nicht zu stören, dass Lina sein Zimmer betrat. Zumindest zeigte er keinerlei Reaktion.

      „Hallo, Keno, ist es okay, wenn ich kurz reinkomme?“

      Er sah nicht auf, schaukelte nur sanft mit dem Oberkörper vor und zurück und zeichnete. Sie trat näher und linste über seine Schulter. Ihre Hoffnung, in der Zeichnung irgendeinen Hinweis zu finden, zerstob. Keno zeichnete einen Müllwagen. Das war, wie Theo ihr gesagt hatte, seine Leidenschaft und seine Begabung. Er konnte nahezu perfekte dreidimensionale Zeichnungen von Müllwagen anfertigen.

      „Keno“, begann Lina, „darf ich dir eine Frage stellen?“

      Keine Reaktion.

      „Es geht um Mike.“ Sie beobachtete die Gesichtszüge des jungen Mannes genau. Er schien unberührt, aber sie hatte den Eindruck, dass seine Schaukelbewegungen stärker wurden.

      „Theo glaubt, dass dir in der Nacht irgendetwas Besonderes aufgefallen ist. Kannst du mir –“

      „Rotes Auto.“

      „Rotes Auto?“ Verwirrt hob Lina die Brauen. „Hast du gestern Nacht ein rotes Auto gesehen?“

      Das Schaukeln des jungen Mannes wurde stärker. „Rotes Auto. Tim hat ein rotes Auto.“

      Mist, dachte Lina. Tims Vorliebe für rote Autos war ihr bereits bekannt. Das war einer von Kenos Standardsätzen. „Ich habe ein blaues Auto“, reagierte sie mit ihrer Standardantwort. Normalerweise gab sich Keno damit zufrieden, doch diesmal wiederholte er: „Tim hat ein rotes Auto.“

      Lina seufzte. „Keno, können wir Tims Auto mal kurz vergessen?“

      „Tim hat ein rotes Auto!“ Aufgeregt schaukelte Keno vor und zurück.

      „Okay, Tim hat ein rotes Auto. Aber kannst du mir sagen, ob du letzte Nacht irgendetwas Besonderes bemerkt hast? War jemand Fremdes hier?“

      „Tim hat ein rotes Auto!“ Keno schrie die Worte fast, und er schaukelte nun so heftig mit dem Oberkörper, dass Lina befürchtete, er würde gleich vom Stuhl fallen.

      „Tim hat ein rotes Auto“, wiederholte Lina. Sie lächelte und fragte sanft: „Hast du gestern Nacht vielleicht irgendwo eine Spritze gesehen?“

      Keno sprang auf. „DER TAUCHER!“, brüllte er so laut, dass Lina erschrocken zusammenzuckte. „WO IST ES?“

      „Hey, schon gut.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Im selben Moment wurde ihr bewusst, dass dies ein Fehler war.

      Keno sprang auf und schrie, als hätte sie ihm ein glühendes Eisen in den Leib gebohrt. Instinktiv ging sie in Abwehrhaltung.

      Der Autist war völlig außer sich. Er schlug sich mit beiden Handballen heftig gegen die Schläfen und schrie aus Leibeskräften: „WO IST ES?“

      Die Tür wurde aufgerissen. Martha starrte erst den tobenden Keno und dann Lina an. „Ich glaube, das reicht jetzt. Es ist besser, du gehst.“

      Lina nickte. „Es tut mir leid, Keno. Ich wollte dir keine Angst einjagen.“

      Ihre Worte gingen im Schreien des jungen Mannes unter.

      „Bitte verlass den Raum!“, sagte die Betreuerin.

      Lina schnappte sich ihr Tablet und ging zur Tür. Kurz bevor sie den Raum verließ, hörte sie Keno sagen: „Der Taucher, der Taucher, der Taucher …“ Es lag eine solche Furcht und Verzweiflung in seiner Stimme, dass ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.

      Theory of Mind

      Theo starrte auf den Bildschirm. Er hatte das Gefühl, dieselbe Zeile zum zehnten Mal zu lesen, ohne auch nur ansatzweise den Sinn des Ganzen zu begreifen. Es war interessanter, eine Staubfluse auf dem Fensterbrett zu beobachten, als diesen Artikel über verhaltensorientierte Finanzmarkttheorie zu lesen. Er hätte sich in den Hintern beißen können, dass er sich für dieses Seminar angemeldet hatte, um einen Schein nachzuholen.

      Theo stützte mit der linken Hand den rechten Ellenbogen, damit er die rechte Hand weit genug anheben konnte, um sich die müden Augen zu reiben. Er seufzte. In den Hintern beißen war illusorisch. Er konnte sich ja noch nicht mal richtig am Kopf kratzen.

      Es klopfte. Nur allzu gern ließ Theo sich von seiner Arbeit ablenken.

      „Ja?“

      Es war Lina. Sie trat ein, zog die schwere Uniformjacke aus, ließ sich aufs Bett plumpsen und versank ächzend in den Lagerungskissen.

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