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den Joystick nach vorn und sein E-Rollstuhl beschleunigte auf fünfzehn Stundenkilometer. „Halt!“, rief er.

      Bedauerlicherweise war seine Stimme nicht besonders laut, was unter anderem an seinem geschwächten Zwerchfell lag. „Warten Sie!“, rief Theo, während er über das Kopfsteinpflaster einer Hofeinfahrt holperte. Er brauste weiter.

      Plötzlich schoss ein Lieferwagen aus einer Einfahrt und bildete vor ihm eine schmutzig-weiße Wand aus Blech. Theo bremste abrupt ab, sein Kopf knallte gegen die Handyhalterung seines Rollstuhls. Das Handy polterte zu Boden und Theos Oberkörper touchierte den Joystick. Der Rollstuhl machte einen Satz nach vorn und kam nur wenige Zentimeter vom Lieferwagen entfernt zum Stehen.

      Benommen richtete Theo sich auf. Der Lieferwagen gab Gas und fuhr auf die Straße, ohne ihn weiter zu beachten. Vermutlich hatte der Fahrer ihn gar nicht bemerkt.

      „Hier!“, meldete sich eine schüchterne Stimme. Eine junge Frau mit Kopftuch stand neben ihm, hatte sein Handy aufgehoben und legte es auf den Rollstuhltisch.

      „Danke.“ Theo versuchte zu lächeln.

      „Du gut?“, fragte die Frau besorgt und in gebrochenem Deutsch.

      „Ja, alles okay. Danke“, erwiderte Theo.

      Sie nickte freundlich und ging weiter.

      Als Theo den Blick wieder zur Straße wandte, war der schwarze Lieferwagen verschwunden.

      Zeugenvernehmung

      Offiziell war Linas Dienst beendet, als sie ein paar Stunden später in der WG-Küche stand und eine beeindruckende Kontraktion ihrer Lungen verspürte, als Lene sie an ihren Busen drückte.

      „Is echt lieb, dass de noch mal vorbeijekomm bist.“

      „Gerne“, krächzte Lina.

      „Du bist eene von die wenigen Leute, die uns ma besuchen kommt.“

      „Aber nicht mehr lange, wenn du mich weiter so quetschst“, presste Lina hervor. „Ich würde gerne wieder … atmen.“

      „Tut ma leid.“ Lene löste ihre Umarmung. „Ick bin doch immer noch so jeschockt, weil der Mike jestorben is.“

      „Das verstehe ich. Wir alle stehen unter Schock.“

      „Ja.“ Lene nickte eifrig. „Heut auf Arbeit hab ick nischt Vernünftiget zustande jekricht. Schließlich hat der Uwe mich inne Mensa jesetzt und jesagt, ick soll Mandalas ausmalen.“

      Lina nickte. Dass Theo ihr von der Einstichwunde erzählt hatte, gab dieser etwas ungewöhnlichen Zeugenbefragung eine neue Dringlichkeit. Behutsam versuchte sie, das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken. „Weißt du, Lene, ich würde gerne besser verstehen, warum der Mike gestorben ist. Ist es okay, wenn ich dir ein paar Fragen stelle?“

      „Klar.“

      „Wollen wir uns setzen?“

      Lene nickte. „Ick brauch jetzt ’n Kaffe. Willste och eenen?“

      „Gerne.“

      Lina setzte sich und startete ihr Tablet.

      Indessen schob Lene mit beachtlicher Behändigkeit ihre imposanten Hüften durch die Küche und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

      Lina gab ein paar Basisdaten ein. Helene Schmidt, Prader-Willi-Syndrom, Lernbehinderung, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig, Alter …?

      „Mit Milch?“, fragte Lene.

      Lina hob den Kopf und lächelte. „Nein, danke.“

      Wenig später saßen beide am Tisch, zwei Pötte mit dampfendem Kaffee und eine Schüssel mit Doppelkeksen vor sich.

      „Willste eenen?“ Lene wies großzügig auf die Keksschüssel.

      „Nein, danke.“

      „Nich schlimm, dann übernehme ick den Job.“ Lene zwinkerte ihr zu und griff sich einen Keks.

      „Wie alt bist du eigentlich, Lene?“, fragte Lina. Es war nicht wirklich wichtig, aber es half ihr, unverfänglich ins Gespräch zu kommen.

      „Einundfuffzig. Sieht man mir jar nich an, wa?“ Lene fuhr sich mit einer gezierten Bewegung durchs Haar. „Nich eene Falte findste in meene Visage, allet schön mit Fett ausjepolstert.“

      Lina unterdrückte ein Schmunzeln. Rasch ergänzte sie ihre Notizen. „Und wie lange kennst du Mike schon?“

      „Keene Ahnung, schon ewig.“ Lene winkte ab und nahm sich einen zweiten Keks. „Ick wohn hier ja schon von Anfang an. Der Mike kam erst später, und am Anfang konnta noch loofen. Aber nur mit so ’nem Dingsbums.“

      „Rollator?“, schlug Lina vor.

      „Richtich.“ Sie griff in die Keksschüssel. „Oh Mann, ick bin echt am Verhungern. Willste nich doch einen? Die sind echt jut, die Dinger.“

      „Nein, danke.“

      „Uff jeden Fall jings irgendwann nich mehr mit dem Loofen, und Mike musste in ’nen Rollstuhl.“

      „Hattest du den Eindruck, dass es Mike in letzter Zeit schlechter ging?“

      „Nö. Der hat ja sogar bei der Grillparty mitjemacht. Dit kam für uns alle voll überraschend.“ Lene blickte zur Seite. Eine Träne rann über ihre runde Wange und fiel zu Boden.

      Lina reichte der beleibten Frau ein Taschentuch. Diese schnäuzte sich geräuschvoll und griff dann erneut in die Keksschüssel.

      „Ist dir letzte Nacht irgendetwas Besonderes aufgefallen?“, fragte Lina.

      „Nö, allet wie immer.“ Sie wischte sich einen Kekskrümel vom Kinn und blickte ihr Gegenüber ernst an. „Ick schlafe ja nachts meistens. Da krieg ick nich so viel mit.“

      „Verstehe.“

      „Moment!“ Lene hob einen Finger. „Einmal war ick uffm Klo – musste mal pieseln. Irgendjemand hat jeschnarcht, als wollte er den janzen Grunewald absägen, und unsere Nachtwache saß inne Küche und hat uffs Handy jeglotzt. Aber dit is nischt Besonderet, dit machen die alle.“ Ein weiterer Keks verschwand zwischen ihren runden Wangen. Sie deutete auf die Schüssel. „Greif lieber zu. Wennde dich nich beeilst, musste mir den Magen auspumpen, wenn du doch noch eenen haben willst.“

      Lina verzog das Gesicht. „Danke, Lene, jetzt habe ich garantiert keinen Hunger mehr.“

      „Alter Trick von mir.“ Lene zwinkerte. „Funktioniert imma.“ Sie griff erneut zu. Die Schüssel war bereits halb leer.

      „Ist dir noch etwas aufgefallen?“

      „Der Keno ist durch die Jänge jeschlichen.“

      Lina horchte auf. „Er war wach?“

      „Ja, aber dit is eijentlich nischt Besonderet. Der is ständig wach.“

      „Hast du mal mitbekommen, dass Mike eine Spritze bekommen hat?“

      „Wie bei so ’ne Impfung meinste?“

      „Genau.“

      Lene erschauerte. „Nee. Zum Glück nich. Wir sind ja ooch ’ne WG und keen Krankenhaus.“

      „Okay, danke. Wenn dir noch etwas einfällt, sag mir Bescheid.“

      „Mach ick. Willste och mit Scotti reden?“

      „Ja, gerne.“

      „Ick schick ihn dir rein, okay?“

      „Ja, bitte.“

      „Keen Problem. Sie erhob sich behände, griff sich zwei Kekse und ging in Richtung Tür. Nach zwei Schritten machte sie kehrt und griff sich mit der anderen Hand noch zwei Kekse. „Reiseproviant“, erklärte sie mit vollem Mund.

      Eine

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