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gefährlich Namen sind.“

      Erschöpft hielt der Namenlose inne. Die Anstrengung hatte ihn seine ganze Kraft gekostet. Einen Moment lang wurde ihm schwarz vor Augen. Er lehnte sich an den Türrahmen und rang keuchend nach Atem.

      „Ich habe ihn gefunden!“, sagte die Stimme. „Wer hätte gedacht, dass du ihn so nah bei unserem alten Hauptquartier verstecken würdest.“

      Der Namenlose stutzte. Hauptquartier? Dieses Wort brachte eine Saite in ihm zum Schwingen. Bilder huschten an seinem inneren Auge vorbei. Berlin. Er quetschte sich durch den Türspalt und kletterte über den umgestoßenen Schrank hinweg in einen düsteren Wohnraum, der vollgestopft war mit Bücherregalen und Bildern. In einer Ecke stand eine mit dunkelbraunem Kunstleder bezogene Couchgarnitur. Nichts in diesem Raum war jünger als dreißig Jahre. Es war fast so, als befände er sich in einem Museum. Ein Museum mit einem versteckten, schallisolierten Verhörraum aus den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts.

      „Wen hast du gefunden?“, fragte er, während er die Tür zum Flur öffnete.

      „Das weißt du ganz genau!“, sagte die Stimme.

      Im Gegensatz zum Wohnzimmer war der Flur nahezu leer. Das einzig Auffällige war die stahlverstärkte, mehrfach verriegelte Tür. Der Schlüssel passte, aber er ließ sich nicht herumdrehen. Wie erwartet, hatte der Fremde ihn mittlerweile gesperrt. „Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss“, sagte der Namenlose. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.“

      Er öffnete die Tür zum nächsten Raum. Es war ein Schlafzimmer. Eine staubige Tagesdecke lag auf dem altmodischen Doppelbett. Er trat ans Fenster, dessen Griff entfernt worden war, und sah hinab auf einen verwahrlosten Innenhof. Die Wohnung, in der er sich befand, lag im zweiten Stock eines Plattenbaus. Im Hof stand ein verrosteter Lkw. Die Räder waren abmontiert, die Scheiben eingeschlagen.

      „Immer noch der alte Taktierer“, sagte die Stimme. Es war zu hören, dass der Mann lächelte. Das Motorengeräusch, das während ihres ganzen Gesprächs zu hören gewesen war, verstummte.

      Der Namenlose schluckte trocken, eilte zurück ins Wohnzimmer und warf einen Blick aus dem Fenster. Ein schwarzer SUV hatte vor dem Haus geparkt. Zwei Männer stiegen aus. Einer davon telefonierte. Der andere starrte zu ihm hoch. Es war derselbe Mann, den er im Hinterhof des Restaurants gesehen hatte.

      Hastig trat er vom Fenster zurück.

      „Sei vernünftig, Peter. Sag mir, was du weißt, und ich lass dich gehen.“

      Der Namenlose eilte zurück ins Schlafzimmer und sah sich um.

      „Wenn du es mir nicht sagst, wird er es uns verraten. Wir erfahren immer, was wir wissen wollen. Niemand weiß das besser als du!“

      Er lügt, schoss es ihm durch den Kopf. Zwar konnte er nicht sagen, an welcher Stelle der Fremde gelogen hatte. Aber irgendwie spürte er, dass der Mann selbst nicht glaubte, was er da gerade gesagt hatte.

      Er schaltete das Handy aus, dann ergriff er ein mit Eichenfurnier verkleidetes Nachtschränkchen und schleuderte es durch die Fensterscheibe. Anschließend trat er die Scheibenreste aus dem Rahmen und kletterte hinaus auf das Fensterbrett. Er glaubte, hinter einer der Scheiben ein Gesicht erkennen zu können, ansonsten schien niemand auf den Lärm zu reagieren. Er holte Schwung und sprang.

      Obwohl er sich mit aller Kraft abgestoßen hatte, verfehlte er beinahe das Dach des Lkw. Ein scharfer Schmerz schoss in seinen Knöchel, als er aufkam. Ungeschickt rollte er über einen Arm ab, schoss über das Dach hinaus und landete unsanft auf der Motorhaube. Das konnte ich mal besser, kam es ihm in den Sinn, während er sich aufrappelte und über den Hof zum Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite humpelte.

      Im Laufen zog er das Handy aus der Tasche und warf es über eine kleine Mauer auf den benachbarten Hof.

      Er hastete die Treppe zum Keller hinab. Ein kräftiger Stoß, und die Tür sprang auf. Eilig lehnte er sie wieder an und warf einen Blick zurück durch die schmierige Scheibe. Zwei Gestalten rannten auf den Hof. Einer sah sich um, der andere starrte auf das Display seines Handys.

      Der Namenlose wartete nicht ab, wo sie nach ihm suchen würden. So rasch es sein malträtierter Fuß zuließ, hetzte er das Treppenhaus hinauf und gelangte durch die Haustür wieder hinaus auf die Straße. Ein Mann mit einem Amazon-Paket unter dem Arm sprang hastig beiseite und schnaufte: „Ey Alter, bist du irre?“

      „Tut mir leid.“ Der Namenlose nickte dem Mann zu und ging weiter. Als der Paketbote im Hausflur verschwunden war, machte er kehrt, stieg in den Lieferwagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand, und brauste davon.

      Während er um die Ecke bog und im Rückspiegel den fluchenden Mann aus dem Haus spurten sah, fragte er sich, warum sich bei ihm kein Triumphgefühl einstellte. Anstatt sich über seine gelungene Flucht zu freuen, verspürte er ein nagendes Gefühl der Unruhe. Hier stimmt was nicht, ging es ihm durch den Kopf. Das war zu leicht!

      Er musste vorsichtig sein, verdammt vorsichtig. Er würde über einige Umwege nach Berlin reisen. Wenn er herausfinden wollte, wer er war, musste er dort beginnen.

      Der Stich

      Die Tür schloss sich, und die Erinnerung überfiel Theo wie ein Flashback. Sie war so plötzlich da und so intensiv, dass er sich nicht gegen sie wehren konnte.

       Die Frühlingssonne scheint warm auf die Terrasse. Eine Biene kommt herbeigeflogen und macht sich eifrig an den Bellis zu schaffen, die in einer gemeinsamen Aktion in die Blumenkübel gepflanzt wurden. Theo spürt Mikes Blick auf sich ruhen. Wegen der ungewohnten Helligkeit hat er die Augen zu engen Schlitzen zusammengekniffen. „Was glaubst du – wie viele hast du noch?“, fragt sein Mitbewohner.

       „Was?“

       Offenbar spiegelt sich Theos Verblüffung deutlich in seinem Gesicht wider, denn Mike schmunzelt leise. „Wie viele Frühlinge?“

       Theo runzelt die Stirn. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“

       „Ich schon“, erwidert Mike. „Ziemlich oft sogar.“ Er lässt seinen Blick zum Horizont schweifen. „Ich glaube nicht, dass ich noch viele haben werde.“

       „Wie kommst du darauf?“, fragt Theo.

       Mike zuckt mit den Achseln – eine langsame, schwerfällig anmutende Bewegung. Dann legt er seine bleichen Arme auf den Tisch seines Rollstuhls. „Ah“, seufzt er. „Ich liebe den Frühling.“

      „He, alles in Ordnung?“, drang plötzlich eine weibliche Stimme an Theos Ohr. Er zuckte erschrocken zusammen. „Was?“

      Marthas gutmütiges Gesicht blickte sorgenvoll auf ihn hinab. „Seit deine Schwester und ihr Kollege gegangen sind, sitzt du einfach da und starrst die Tür an.“

      „Entschuldige … Ich war in Gedanken“, erwiderte Theo.

      Martha legte eine Hand auf seine Schulter und seufzte leise.

      „Das kommt alles so unerwartet, so plötzlich …“ Er verstummte.

      „So ist es immer“, sagte Martha.

      „Aber er war noch nicht so weit!“, entfuhr es Theo.

      Die erfahrene Betreuerin lächelte mitleidig.

      „Ich … ich würde ihn gerne noch mal sehen. Meinst du, das wäre möglich?“

      Martha zögerte einen Moment, dann nickte sie. „Natürlich, Theo. Nimm Abschied von ihm.“ Sie öffnete die Tür für ihn.

      „Danke.“

      „Gib mir Bescheid, wenn du fertig bist.“

      „Mach ich.“

      Es war still in Mikes Zimmer. Totenstill! Theo lief ein Schauer über den Rücken. Sonnenstrahlen stahlen sich durch

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