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      „Jetzt beruhigen Sie sich erst mal“, hörte sie Bens Stimme. „Was genau ist denn passiert?“

      Lina blendete das Gespräch aus. Behutsam legte sie eine Hand auf die schmale Schulter ihres Bruders. Durch sein Shirt konnte sie sein Schlüsselbein spüren, dünn und zerbrechlich wie ein Vogelknochen. „Es tut mir so leid.“

      Theos Versuch zu lächeln scheiterte. „Wir haben gestern noch zusammen gelacht. Es ging ihm gut. Er …“, Theo schluckte, „… er hätte noch mehr Zeit haben müssen.“

      Das vertraute Gefühl der Bitterkeit stieg in Lina auf. Siehst du?, wollte sie ihrem Bruder ins Gesicht schreien. Es ergibt keinen Sinn! Das Leben hält sich nicht an Regeln. Es gibt niemanden, der die Zügel in der Hand hält. Das namenlose Schicksal herrscht über alles, mächtig, aber hirnlos. Es schlägt blind um sich, wie ein trotziges Kind, und wer getroffen wird, der stirbt, ob er nun Gutes oder Böses getan hat, ob er hehre Ziele hatte oder nicht. Hör auf, dich selbst zu täuschen. Schmeiß deinen Kinderglauben über Bord und stell dich der Realität!

      All diese Worte hatten sich in ihr angestaut und wollten heraus, doch ein Blick in Theos Augen hielt sie zurück. Du darfst ihm nicht seinen letzten Halt nehmen, sagte sie sich stumm.

      Doch wenn sie ganz ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass dies nicht der wahre Grund für ihr Schweigen war. Sie hatte schon so manches Mal mit Theo darüber gesprochen, und es war ihr nicht gelungen, seine Gedanken einfach beiseitezuschieben. Wir lassen uns in unseren Zweifeln oft von dem wenig reflektierten Gefühl leiten, dass es das Böse nicht geben darf, wenn Gott wirklich existiert, hatte er gesagt. Mit der gleichen Logik könnten wir allerdings auch behaupten, dass Mathematik ein Lügenkonstrukt ist, weil es so etwas wie Rechenfehler gibt, oder dass Liebeskummer ein untrüglicher Beweis dafür ist, dass es echte Liebe nicht geben kann. Unser Problem ist, dass wir nur einen winzigen Bruchteil der Wirklichkeit sehen können, und diesen auch noch gefärbt durch die Brille unserer subjektiven Wahrnehmung und unseres momentanen emotionalen Zustands – ein ziemlich wackliges Fundament, um Gottes Existenz infrage zu stellen. Sie presste die Lippen zusammen und schwieg.

      „Ich verstehe das nicht“, fuhr Theo leise fort.

      „Niemand kann das verstehen“, sagte sie. „Das Leben ist einfach ungerecht.“

      Er schüttelte den Kopf. „So meine ich das nicht.“ Mit ungewohntem Ernst im Blick sah er zu ihr auf. „ALS ist eine tödliche Krankheit, aber sie tötet nicht … so. Irgendetwas stimmt da nicht.“

      Lina hob die Brauen. „Was willst du damit sagen?“

      Er zuckte kaum sichtbar die Achseln. „Wenn ich das wüsste. Irgendetwas muss komisch gewesen sein in dieser Nacht. Keno war völlig aufgelöst.“

      „Nun ja, Keno ist Autist.“ Sie lächelte. „Soweit ich mich erinnere, ist er fast täglich völlig aufgelöst. Das letzte Mal zum Beispiel, weil jemand aus seinem Müslischälchen gegessen hatte. Und davor lag es daran, dass er seine Uhr nicht finden konnte.“

      „Lina, ich weiß, dass ihm kleine Veränderungen eine panische Angst einjagen können, wenn es ihm gerade nicht gut geht, aber diesmal ist es … etwas anderes.“

      „Okay … Und was genau?“

      „Der Taucher“, murmelte Theo.

      „Wie bitte? Der Taucher?“

      „Ja.“

      „Und wer soll das sein?“

      „Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, seufzte er. „Aber bitte versprich mir, dass du Mikes Tod nicht einfach auf sich beruhen lässt. Ihr müsst da genauer hinschauen.“

      Lina sah ihrem Bruder in die Augen. Sie konnte seine Trauer und Wut darin sehen. Es war ihm äußerst ernst. Langsam nickte sie. „Okay. Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?“

      „Eine neue Nachtwache, ein Typ namens Marek. Er war ziemlich durcheinander und ein bisschen nachlässig.“

      „Nachlässig?“

      „Er … hat mich im Snoezelenraum vergessen.“

      „Und was hat das mit Mikes Tod zu tun?“

      „Nichts, aber … mit dem Typen stimmte etwas nicht.“

      „Gut.“ Lina nickte. „Ich werde auch mit ihm sprechen.“

      „Danke. Ich muss jetzt in mein Zimmer … Hab ’ne Vorlesung.“

      „Klar. Das lenkt dich vielleicht ein bisschen ab.“

      Lina sah Theo hinterher. Ihr kleiner Bruder studierte im Fernstudium Psychologie, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er jemals in diesem Beruf arbeiten würde, war nicht besonders hoch.

      Es klingelte an der Tür.

      Als sie sich umwandte, ließ Martha gerade einen hochgewachsenen, schlanken Mann herein. Er trug einen schwarzen Koffer in der Hand. „Dr. Behrends, guten Tag“, stellte er sich knapp vor. „Was macht denn die Polizei hier?“

      „Ich … na ja, ich war so geschockt, und da dachte ich …“, stammelte die Betreuerin.

      „Wahrscheinlich haben Sie die Herrschaften umsonst bemüht.“ Der Arzt wandte sich Lina und Ben zu. „Mike Lörke war mein Patient, er hatte eine chronisch degenerative Muskelerkrankung. In letzter Zeit ging es ihm zunehmend schlechter.“ Er kniff die Lippen zusammen und nickte ernst. „Natürlich muss ich erst eine Leichenschau abhalten, aber ich bin mir sicher, dass hier eine natürliche Todesursache vorliegt. Sie können sich also wieder der Verbrecherjagd widmen.“ Er lächelte.

      „Danke, aber wir entscheiden selbst, was wir zu tun haben“, erwiderte Lina barsch. „Es stört Sie doch nicht, wenn wir die Ergebnisse Ihrer Untersuchung abwarten?“

      Der Arzt zuckte die Achseln. „Wenn Sie sonst nichts zu tun haben.“ Er wandte sich ab, ging den Flur hinab zu Mikes Zimmer, trat ein und schloss die Tür hinter sich.

      „Was für ein arroganter Mistkerl!“, brummte Ben.

      „Er hat die Sozialkompetenz eines Blutegels, aber er ist ein äußerst erfolgreicher Arzt, der jede Menge wichtiger Leute kennt“, bemerkte Martha. Sie lächelte Lina müde zu. „Tut mir leid, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. In der Uniform siehst du ganz anders aus.“

      Lina winkte ab. „Kein Problem.“

      „Setzt euch.“ Martha führte die beiden zu einer Sitzecke. „Ich würde euch ja einen Kaffee anbieten, aber ich muss mich jetzt um Keno kümmern.“

      „Natürlich. Mach dir keine Umstände.“

      Martha wandte sich ab und eilte in eines der WG-Zimmer.

      Ben nickte Richtung Flur. „War das vorhin … dein Bruder?“

      „Ja.“

      „Hm … Tut mir leid“, brummte er.

      „Kleiner Bruder halt.“ Sie zuckte die Achseln. „Manchmal ein bisschen nervig. Hast du auch Geschwister?“

      „Zwei jüngere Schwestern.“

      „Dann weißt du ja, wie das ist“, sagte Lina.

      „Na ja.“ Er runzelte die Stirn. „Das ist wohl nicht ganz das Gleiche.“

      „Weil Jungs schlimmer sind? Da habe ich Zweifel!“

      „Eigentlich wollte ich damit sagen –“

      „Ich weiß, was du damit sagen wolltest“, unterbrach Lina ihn. „Nimm’s mir nicht übel, aber du hast keine Ahnung. Weißt du, was richtig hart war? So richtig hart?“

      „Äh, nein …“

      „Als er mir einmal heimlich eine Nacktschnecke ins Bett gelegt hat und ich das erst am nächsten Morgen bemerkte. Dieser Schleim überall, das war so widerlich!“ Sie schüttelte sich.

      Ben

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