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laut. Eine Entschuldigung lag ihm auf den Lippen. Dann machte er sich bewusst, dass niemand da war, der sich an dem Geräusch stören konnte.

      Mike lag im Bett, fast so, als würde er schlafen. Theo fuhr näher heran, bis sein Rollstuhl gegen das Bett stieß. Es roch ein wenig seltsam. War das der Geruch des Todes?

      Theo zwang sich, den leblosen Körper seines Mitbewohners anzusehen. Seine Haut war weiß und wächsern. Der Mund stand offen, die Augäpfel lagen wie bemalte Kiesel in den Höhlen. Er erinnerte sich, dass Lene davon gesprochen hatte, Mikes Körper sei ganz starr gewesen. Die Totenstarre hatte demnach bereits eingesetzt, bevor man ihm Mund und Augen hatte schließen können.

      Es war noch nicht lange her, kaum mehr als ein paar Stunden, da hatte dieser Mund gelächelt, geredet und gelacht, und in den Augen hatte eine wache Intelligenz gelegen.

      Ungerufen schwappten erneut die Erinnerungen in Theos Bewusstsein.

       Mike und er sitzen auf der Dachterrasse des Hauses und lassen den Blick über die Skyline der Hauptstadt schweifen. Die Sonne glüht ein letztes Mal auf, bevor der Horizont ihre Strahlen verschluckt. Lichter flammen in den Häusern auf.

       „Siehst du das?“, fragt Mike. „Manchmal stelle ich mir vor, dass jedes Licht, das am Abend aufflammt, für eine Seele steht. Hinter jedem dieser Fenster hockt irgendein Mensch. Er schaltet die Glotze ein, starrt auf sein Smartphone, unterhält sich, ärgert sich, fühlt sich einsam oder feiert einen Triumph. Jeder von ihnen ist der Mittelpunkt seiner eigenen kleinen Welt.“ Melancholie stiehlt sich in sein Gesicht. „Aber was ist der Sinn dahinter? Millionen von Seelen in einer riesigen Stadt, und jede von ihnen glaubt, dass sie von Bedeutung ist. Aber nichts bleibt für immer. Die meisten von uns bewirken rein gar nichts. Jetzt in diesem Moment sterben Menschen und andere werden geboren. Es ist ein Kommen und Gehen. Wofür? Was bringt das alles?“

       Theo starrt in die beginnende Nacht. „Das war eine rhetorische Frage, oder?“

       Mike schmunzelt. „Nee, so einfach kommst du mir nicht davon, Theo. Ich will wissen, was du denkst. Hat das Leben einen Sinn?“

       „Das ist eine ziemlich große Frage für ein ziemlich kleines Gehirn“, erwidert Theo.

       „Hör auf, dich herauszuwinden.“

       „Manche sagen, der Sinn des Lebens sei das Leben selbst.“

       „Eine elegante Formulierung.“ Mike nickt anerkennend. „Aber was heißt das konkret?“

       „Ich denke, damit ist im Grunde gemeint, dass wir das Leben wertschätzen sollen und dass wir selbst ihm einen Sinn verleihen müssen.“

       „Klingt nicht schlecht.“ Mike schürzt nachdenklich die Lippen. „Aber verliert das Wort Sinn dadurch nicht jede Bedeutung?“

       „Was meinst du damit?“, hakt Theo nach.

       „Na ja, eine Kompassnadel, die in jede beliebige Richtung ausschlägt, bietet keinerlei Orientierung mehr. Für den Hedonisten ist der Sinn des Lebens, so viel Spaß wie möglich zu haben, der Asket sieht im Verzicht das höchste Ziel, der Kapitalist sucht Reichtum, der Instagram-Star Follower, der Dschihadist will alle Ungläubigen massakrieren, der Nazi … Ach, weiter will ich mir diesen Mist gar nicht ausmalen. Wenn jeder den Sinn des Lebens für sich selbst bestimmt, kommt vielleicht manchmal etwas heraus, das ehrenwert ist, manchmal etwas Banales, manchmal Blödsinn und nur allzu oft etwas abgrundtief Schreckliches. Wenn alles irgendwie Sinn ergibt, auch die Dinge, die sich absolut widersprechen, wenn die Frage nach dem Sinn im Grunde zu einer Frage des persönlichen Geschmacks wird, hat dieses Wort dann überhaupt noch irgendeine Bedeutung?“

       Theo nickt nachdenklich. „Gute Frage. Wahrscheinlich wirst du so viele unterschiedliche Antworten darauf bekommen, wie es Menschen gibt.“

       „Ganz bestimmt“, erwidert Mike. „Mich würde interessieren, was du dazu sagst. Findet der Mensch den Sinn des Lebens in sich selbst oder außerhalb von sich?“

       „Na ja“, erwidert Theo, „wenn du mich so fragst, würde ich sagen: In gewissem Sinn gehört beides zusammen.“

       „Hä?“

       „Ich sagte doch, es ist nicht leicht.“

       „Versuch’s trotzdem!“

       „Ich glaube, dieses Paradox begegnet uns immer wieder. Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt. Jeder ist einzigartig, vollkommen individuell, und doch sind wir alle Menschen. Wir haben unterschiedliche Geschmäcker, aber die gleichen Grundbedürfnisse, und damit meine ich nicht nur die körperlichen Aspekte. Jeder Mensch trägt das Bedürfnis in sich, etwas zu schaffen, ursächlich zu sein in einem tieferen Sinne. Jeder will geliebt werden und zurücklieben. Jeder trägt tief in sich das Bewusstsein für das, was wir Schönheit nennen, und jeder hat eine Ahnung von Recht und Unrecht, und sei sie noch so rudimentär.“

       „Ich habe den Eindruck, dass dieses Bewusstsein manchmal sehr rudimentär ist“, bemerkt Mike. „Aber gut. Lassen wir das mal so stehen. Was hat das nun mit dem Sinn des Lebens zu tun?“

       „Alles, was ich eben aufgezählt habe, kann ich nicht für mich allein tun. Ich kann mich nicht selbst essen und trinken. Wenn mein Empfinden für Schönheit sich auf mein eigenes Spiegelbild beschränkt, habe ich ein ernsthaftes Problem. Sich selbst zu lieben, ist zu wenig, und Recht und Unrecht ist per Definition ein Aspekt von Beziehung. Manchmal sind wir selbst die Frage, manchmal die Antwort. Aber wir sind nie beides zugleich, verstehst du, was ich meine?“

       „Ich denke, schon. Worauf willst du hinaus?“

       „Ich glaube, dass es bei der Frage nach dem Sinn des Lebens nicht anders ist. Wenn wir den Sinn unseres Lebens allein in uns selbst suchen, werden wir letztendlich enttäuscht werden. Er existiert aber auch nicht unabhängig von uns, wie ein vergrabener Schatz, den wir ausbuddeln müssen. Er ist unsere Antwort auf eine Frage …“

      Das Telefon klingelte und riss Theo aus seinen Gedanken. Im Hintergrund konnte er hören, wie Martha den Flur entlangeilte und an den Apparat ging.

      „Theo?“, drang Marthas Stimme durch die geschlossene Tür. „In WG 2 gibt es ein Problem. Sie brauchen meine Hilfe. Ich nehme Keno mit. Du bist dann allein hier!“

      „Okay.“

      „In dringenden Fällen kannst du mich dort erreichen.“

      „Alles klar!“

      Marthas Schritte eilten den Flur entlang. Theo hörte, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde.

      Sein Blick wanderte zurück zu dem Leichnam. Es war nicht Mike, der dort regungslos im Bett lag, es war nur eine leere Hülle, die nach und nach vergehen würde. Und dennoch erinnerte so schmerzlich viel an den Menschen, der sein Freund gewesen war.

      Mike trug einen altmodischen Schlafanzug mit Knopfleiste und Kragen. Wahrscheinlich war er der einzige unter Siebzigjährige in der Stadt, der das tat … getan hatte, korrigierte sich Theo. Auch tagsüber hatte Mike stets Hemden getragen, langärmlige Hemden, die er vom Frühjahr bis zum Spätsommer akkurat hochgekrempelt hatte, so wie Jogi Löw und Jürgen Klinsmann beim Sommermärchen 2006.

      Theos Blick fiel auf Mikes rechten Arm, der Ärmelsaum hing ihm irgendwo zwischen Ellenbogen und Handgelenk. Das war merkwürdig. Als ob jemand versucht hätte, den Ärmel herunterzukrempeln, um dann auf halber Strecke aufzuhören. Ob das bei der Untersuchung des Leichnams passiert war? Aber warum sollte ein Arzt das tun? Ohnehin sah es nicht so aus, als hätte Dr. Behrends allzu viele Anstrengungen unternommen, um die Todesursache festzustellen. So wie Mike dalag, hatte sich der Mann nicht mal die Mühe gemacht, ihn zu entkleiden.

      Theo nahm seinen Greifer und ließ ihn um den Ärmelsaum schnappen. Es war mühsam,

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