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Genestas. »Was tun ihr Vater und ihre Mutter?«

      »Oh, das ist eine ganze Geschichte,« erwiderte Benassis. »Sie besitzt weder Vater noch Mutter, noch Verwandte mehr. Für alles, einschließlich ihres Namens, habe ich mich interessiert. Die Fosseuse ist im Flecken geboren. Ihr Vater, ein Tagelöhner aus Saint-Laurent-du-Pont, hieß le Fosseur, eine Abkürzung zweifelsohne von Fossoyeur (Totengräber); denn seit undenklichen Zeiten war das Amt, die Toten zu begraben, in seiner Familie geblieben. In diesem Namen sind alle Melancholien des Friedhofs enthalten. Kraft einer römischen Sitte, die sich hier, wie in einigen anderen französischen Landstrichen, noch erhalten hat, und die darin besteht, Frauen den Namen ihrer Ehemänner zu geben, indem man eine weibliche Endung daranfügt, ist das Mädchen nach ihres Vaters Namen die Fosseuse genannt worden. Dieser Tagelöhner hatte aus Liebe die Kammerfrau, ich weiß nicht, welcher Gräfin, geheiratet, deren Besitzung einige Meilen von dem Flecken entfernt liegt. Hier, wie in allen Landkreisen, hat Liebe wenig mit Heiraten zu tun. Gewöhnlich wollen Bauern eine Frau, um Kinder zu bekommen, um eine Haushälterin zu haben, die eine gute Suppe kocht und ihnen ihr Essen aufs Feld bringt, die Hemden webt und ihre Kleider flickt. Seit langem war solch ein Abenteuer im Lande nicht vorgekommen, wo ein junger Mann häufig seine »Verlobte« um eines jungen Mädchens willen verläßt, die drei oder vier Arpents Land mehr als sie besitzt. Das Schicksal des Fosseur und seiner Frau ist nicht glücklich genug gewesen, um unsere Dauphineser von ihren eigennützigen Berechnungen abzubringen. Die Fosseuse, die eine hübsche Person war, ist bei der Geburt ihrer Tochter gestorben. Der Mann nahm sich diesen Verlust so zu Herzen, daß er ihr im selben Jahre nachgefolgt ist, seinem Kinde nichts weiter auf der Welt wie ein schwankendes und natürlicherweise sehr unsicheres Leben hinterlassend. Aus Barmherzigkeit wurde die Kleine von einer Nachbarin aufgenommen, die sie bis zum Alter von neun Jahren aufzog. Die Ernährung der Fosseuse wurde eine zu schwere Last für die gute Frau, und sie schickte ihr Mündel im Sommer, wo es Reisende auf den Straßen gibt, zum Brotbetteln fort. Als die Waise eines Tages bettelnd ins Schloß der Gräfin gekommen war, wurde sie in Erinnerung an ihre Mutter dortbehalten. Sie wurde dann erzogen, um eines Tages die Kammerjungfer der Tochter des Hauses zu werden, die sich fünf Jahre später verheiratete. Während dieser Zeit ist die arme Kleine das Opfer aller Launen der reichen Leute gewesen, die in ihrer Mehrzahl weder Beständigkeit noch Folgerichtigkeit in ihrem Edelmute zeigen. Wohltätig aus Anwandlung oder Laune, bald Freunde, bald Herren und bald Beschützer, verschiefen sie die ohnehin schon schiefe Stellung der unglücklichen Kinder, für die sie sich interessieren und spielen sorglos mit deren Herzen, Leben oder Zukunft, indem sie diese für etwas Geringfügiges halten. Die Fosseuse wurde anfänglich fast die Gefährtin der jungen Erbin: man lehrte sie lesen und schreiben und ihrer zukünftigen Herrin machte es manchmal Spaß, ihr Musikstunden zu geben. Abwechselnd ließ man sie Gesellschafterin und Kammerfrau sein und machte ein unvollkommenes Wesen aus ihr. Sie fand Geschmack an Luxus und Putz und nahm Manieren an, die im Mißverhältnis zu ihrer wirklichen Lage standen. Später hat das Unglück ihre Seele mit rauher Hand verändert, hat aber das vage Gefühl einer höheren Bestimmung in ihr nicht auszulöschen vermocht. Eines Tages endlich – ein recht düsterer Tag war es für das arme Mädchen – überraschte die inzwischen verheiratete junge Gräfin die Fosseuse, die nur noch ihre Kammerjungfer war, mit einem ihrer Ballkleider angetan vor einem Spiegel tanzend. Die damals sechzehnjährige Waise wurde daraufhin mitleidslos fortgeschickt. Ihre Indolenz ließ sie ins Unglück zurücksinken, auf den Straßen herumirren, betteln und arbeiten, wie ich Ihnen erzählt habe. Oft wollte sie sich ins Wasser stürzen, manchmal sich dem Nächstbesten an den Hals werfen; die meiste Zeit über schlief sie in der Sonne längs einer Mauer, düster, nachdenklich, den Kopf im Grase. Die Reisenden warfen ihr dann einige Sous zu, eben weil sie nichts verlangte. Ein Jahr lang ist sie im Hospital in Annecy gewesen, nach einer arbeitsreichen Ernte, in der sie nur in der Hoffnung zu sterben gearbeitet hatte. Man muß sie selber ihre Gefühle und ihre Gedanken während dieser Lebensperiode erzählen hören, oft ist sie recht merkwürdig in ihren naiven Geständnissen. Schließlich ist sie in der Zeit, wo ich mich entschloß, mich hier niederzulassen, in den Flecken zurückgekehrt. Ich wollte die Moral der von mir Verwalteten kennenlernen, studierte also auch ihren Charakter, der mich überraschte; nachdem ich dann ihre organischen Mängel beobachtet hatte, entschloß ich mich, für sie zu sorgen. Vielleicht wird sie sich mit der Zeit endlich an Näharbeit gewöhnen; doch habe ich auf alle Fälle ihr Los gesichert.«

      »Sie ist nicht allein dort!« sagte Genestas.

      »Nein; eine meiner Hirtinnen schläft bei ihr,« antwortete der Arzt. »Sie haben die Gebäulichkeiten meiner Meierei nicht gesehen, die oberhalb des Hauses stehen. Sie sind durch Fichten verdeckt. Oh, sie ist in Sicherheit. Uebrigens gibt's keine üblen Subjekte in unserem Tale; wenn ich zufällig auf solche stoße, schiebe ich sie zur Armee ab, wo sie ausgezeichnete Soldaten sind.« »Armes Mädchen!« sagte Genestas.

      »Ah! die Leute im Bezirk beklagen sie gar nicht,« erwiderte Benassis, »sie finden sie im Gegenteil recht glücklich; doch besteht der Unterschied zwischen ihr und den andern Weibern, daß Gott denen Kraft und ihr Schwäche verliehen hat; und sie sehen das nicht!«

      In dem Augenblick, wo die Reiter in die Grenobler Straße einbogen, machte Benassis, der die Wirkung dieses neuen Anblicks auf Genestas voraussah, mit befriedigter Miene halt, um sich an seiner Ueberraschung zu weiden. Zwei sechzig Fuß hohe Laubbahnen schmückten, so weit das Auge reichte, einen breiten, wie eine Gartenallee gewölbten Weg und bildeten ein natürliches Denkmal, das geschaffen zu haben, eines Menschen Stolz bilden konnte. Die nicht beschnittenen Bäume zeigten alle die ungeheure grüne Krone, welche die italienische Pappel zu einem der prächtigsten Gewächse macht. Eine Straßenseite, die bereits im Schatten lag, stellte eine unendliche Mauer aus dunklen Blättern dar, während die andere, stark belichtet durch den Sonnenuntergang, der den jungen Trieben Goldtinten verlieh, den Kontrast der Spiele und Reflexe zeigte, welche Licht und sanfter Wind auf ihrem bewegten Vorhange hervorriefen.

      »Sie müssen sehr glücklich hier sein,« rief Genestas. »Alles hier ist ein Vergnügen für Sie.«

      »Die Liebe zur Natur, mein Herr,« antwortete der Arzt, »ist die einzige, welche menschliche Hoffnungen nicht täuscht. Da gibt's keine Enttäuschungen. Das sind zehnjährige Pappeln. Haben Sie je welche gesehen, die so schön gekommen sind wie meine?«

      »Gott ist groß!« sagte der Offizier, in der Mitte der Straße, von der er weder Anfang noch Ende entdeckte, haltmachend.

      »Sie erweisen mir eine Wohltat!« rief Benassis. »Mit Vergnügen höre ich Sie wiederholen, was ich oft inmitten dieser Allee gesagt habe. Sicherlich waltet hier etwas Religiöses. Wir sind hier wie zwei Punkte, und das Gefühl unserer Kleinheit führt uns immer zu Gott zurück.«

      Sie ritten nun langsam und schweigend einher und horchten auf den Tritt ihrer Pferde, der in dieser Laubgalerie widerhallte, wie wenn sie unter einem Domgewölbe gewesen wären.

      »Wie viele Gemütsbewegungen gibt es doch, von denen die Stadtleute gar keine Ahnung haben!« sagte der Arzt. »Riechen Sie den Duft, den das Bienenharz der Pappeln und die Ausschwitzungen der Lärchenbäume ausströmen? Welche Köstlichkeiten!«

      »Horchen Sie!« rief Genestas. »Halten wir!«

      Da hörten sie in der Ferne Gesang.

      »Ist's eine Frau oder ein Mann? Ist's ein Vogel?« fragte der Major ganz leise. Ist's die Stimme dieser großen Landschaft?«

      »Von alledem etwas,« antwortete der Arzt, der von seinem Pferde stieg und es an einen Pappelzweig band. Dann gab er dem Offizier ein Zeichen, ihn nachzuahmen und ihm zu folgen. Mit langsamen Schritten gingen sie einen Saumpfad entlang, der von zwei in Blüte stehenden Weißdornhecken, die in der feuchten Abendluft betäubende Düfte ausströmten, umsäumt wurde. Die Sonnenstrahlen drangen mit einer gewissen Wucht, die der von dem langen Pappelvorhang geworfene Schatten noch fühlbarer machte, auf den Pfad, und diese kräftigen Lichtstrahlen hüllten mit ihren roten Tinten eine am Rande dieses Landweges liegende Hütte ein. Goldstaub schien auf ihr Strohdach geworfen zu sein, das gewöhnlich braun wie eine Kastanienschale war und dessen zerfallene Firste von Hauswurz und Moos begrünt waren. Man sah die Hütte in diesem Lichtnebel kaum; die alten Mauern aber, die Tür, alles wies einen flüchtigen Glanz auf, alles war so unvermutet schön, wie es ein Menschenantlitz unter der Herrschaft einer Leidenschaft, die es erhitzt

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