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kann ich,« sagte Genestas, »daß ein von der Furcht oder irgendeinem heftigen Gefühle erfaßter Mensch auf diese Felsspitze da hat hinaufklettern können; wie aber will er es anstellen, wieder herunterzukommen?«

      »Da bin ich nicht in Sorge,« antwortete Benassis, »die Ziegen dürften auf den Leichtfuß da eifersüchtig sein. Sie werden ja sehen.«

      Durch die Kriegsereignisse gewöhnt, Männer nach ihrem inneren Werte zu beurteilen, bewunderte der Major die ungewöhnliche Schnelligkeit, die elegante Sicherheit der Bewegungen Butifers, während er den zerklüfteten Hang des Felsens entlang hinabstieg, auf dessen Gipfel er kühn gelangt war. Des Jägers gertenschlanker und kräftiger Körper brachte sich mit Grazie in allen Stellungen ins Gleichgewicht, die des Weges steile Abdachung ihn einzunehmen zwang; er setzte den Fuß ruhiger auf eine Felszacke, als er ihn auf ein Parkett gesetzt haben würde, so sicher schien er, sich dort im Notfall halten zu können. Seine lange Flinte handhabte er, wie wenn er nur einen Stock in der Hand hielte. Butifer war ein junger Mann von mittlerer, aber magerer und nerviger Figur, dessen männliche Schönheit Genestas überraschte, als er ihn in der Nähe sah. Sicherlich gehörte er der Klasse der Schmuggler an, die ihren Beruf ohne Gewalttätigkeit ausüben und nur mit List und Geduld arbeiten, um den Fiskus zu betrügen. Er hatte ein männliches, sonnenverbranntes Gesicht. Seine hellgelben Augen funkelten wie die eines Adlers, mit dessen Schnabel seine dünne, an der Spitze leicht gebogene Nase viel Aehnlichkeit hatte. Seine Backenknochen waren mit Flaumhaaren bedeckt. Sein roter, halb offener Mund ließ Zähne von einem blendenden Weiß sehen. Sein roter Kinn-, Schnurr- und Backenbart, den er wachsen ließ und der sich natürlich kräuselte, erhöhte den männlichen und Furcht einflößenden Ausdruck seines Gesichtes noch. An ihm war alles Kraft. Die Muskeln seiner beständig geübten Hände besaßen eine merkwürdige Festigkeit und Dicke. Seine Brust war breit und auf seiner Stirn lag eine wilde Intelligenz. Er hatte die unerschrockene und entschlossene, aber ruhige Miene eines Mannes, der gewöhnt ist, sein Leben zu wagen und seine körperliche oder intellektuelle Kraft in Gefahren jeglicher Art so oft erprobt hat, daß er nicht mehr an sich zweifelt. Er war mit einer von Dornen zerrissenen Bluse bekleidet und trug an seinen Füßen Ledersohlen, die mit Aalhäuten befestigt waren. Eine geflickte, zerrissene blaue Leinenhose ließ seine schlanken roten Beine sehen, die mager und nervig waren wie die eines Hirsches.

      »Sie sehen da den Mann, der einst einen Büchsenschuß auf mich abgegeben hat,« sagte Benassis mit leiser Stimme zu dem Major. »Wenn ich jetzt den Wunsch äußerte, von irgendwem befreit zu werden, würde er ihn bedenkenlos töten. – Butifer,« fuhr er, sich an den Wilddieb wendend, fort, »ich habe dich wahrhaftig für einen Ehrenmann gehalten, und hab' mein Wort verpfändet, weil ich deins hatte. Mein Versprechen dem Grenobler Staatsanwalt gegenüber stützte sich auf deinen Schwur, nicht mehr zu jagen und ein ordentlicher, sorgsamer, arbeitsamer Mensch zu werden. Du hast eben den Büchsenschuß abgegeben und befindest dich im Revier des Grafen von Labranchoir. He! wenn sein Wächter dich gehört hat, Unglücksmensch? Zu deinem Glücke werd' ich kein Protokoll aufnehmen, du würdest rückfällig sein und hast keinen Waffenschein. Aus Willfährigkeit habe ich dir um deiner Anhänglichkeit an die Waffe willen deine Flinte gelassen.«

      »Sie ist schön,« sagte der Major, der eine Saint-Étienner Entenflinte erkannte.

      Der Schmuggler wandte seinen Kopf nach Genestas hin, wie um ihm für diese beifällige Aeußerung zu danken.

      »Butifer,« sagte Benassis fortfahrend, »dein Gewissen muß dir Vorwürfe machen. Wenn du dein altes Handwerk wieder anfängst, wirst du dich noch einmal in einem mit Mauern eingeschlossenen Pferch finden; keine Protektion könnte dich dann vor den Galeeren retten; du würdest dann gebrandmarkt. Heute abend noch wirst du mir deine Flinte bringen, ich will sie dir aufheben!«

      Butifer preßte das Rohr seiner Waffe mit einer krampfhaften Bewegung an sich.

      »Sie haben recht, Herr Bürgermeister,« sagte er, »ich hab' unrecht; ich habe meinen Bann gebrochen, bin ein Hund. Mein Gewehr muß zu Ihnen wandern, aber Sie werden meine Erbschaft haben, wenn Sie's mir nehmen. Der letzte Schuß, den meiner Mutter Sohn abgeben wird, soll meinen Hirnkasten treffen … Was wollen Sie? Ich habe getan, was Sie gewollt haben; hab' mich den Winter über ruhig verhalten; im Frühling aber war die Kraft zu Ende. Ich kann nicht mehr arbeiten, mein Herz steht mir nicht danach, mein Leben damit zuzubringen, Geflügel fett zu machen; ich kann mich weder bücken, um Gemüse zu hacken, noch beim Wagenfahren die Peitsche in die Luft knallen, noch einen Pferderücken im Stall striegeln; ich muß also vor Hunger krepieren? Nur da oben kann ich gut leben!« sagte er nach einer Pause, in die Berge zeigend. »Seit acht Tagen bin ich dort; ich hatte eine Gemse gesehen, und die Gemse ist dort,« sagte er, auf die Höhe des Felsens hindeutend, »sie steht Ihnen zur Verfügung! Mein guter Monsieur Benassis, lassen Sie mir mein Gewehr! Hören Sie, bei Butifers Ehrenwort! ich werde die Gemeinde verlassen und will in die Alpen gehen, wo die Gemsenjäger mir nichts in den Weg legen werden; ganz im Gegenteil, sie werden mich mit Freuden aufnehmen und ich will dort in irgendeiner Gletscherspalte krepieren. Um offen zu sein: sehen Sie, ich will lieber ein oder zwei Jahre so auf den Höhen leben, ohne weder der Regierung, noch Zöllnern, noch Flurschützen, noch dem Staatsanwalt zu begegnen, als hundert Jahre in Ihrem Bruch verkommen. Nur Ihnen würd' ich nachtrauern, die anderen langweilen mich ja! Wenn Sie Vernunft haben, rotten Sie wenigstens nicht Leute aus …«

      »Und Louise?« fragte ihn Benassis.

      Butifer versank in Nachdenken.

      »He, mein Junge,« sagte Genestas, »lern' lesen und schreiben, komm in mein Regiment, setz' dich auf ein Pferd und werde Karabinier! Wenn einmal zum Aufsitzen geblasen wird und es in einen wirklichen Krieg geht, sollst du sehen, daß der liebe Gott dich erschaffen hat, um inmitten der Kanonen, Kugeln und Schlachten zu leben, und du wirst General werden.«

      »Ja, wenn Napoleon zurückgekommen wäre,« antwortete Butifer.

      »Du kennst doch unsere Abmachungen?« sagte der Arzt zu ihm. »Bei der zweiten Uebertretung hast du mir versprochen, wolltest du Soldat werden. Ich gebe dir sechs Monate zum Lesen- und Schreibenlernen, dann werde ich einen Familiensohn ausfindig machen, als dessen Stellvertreter du einrückst.«

      Butifer blickte in die Berge.

      »Oh, du wirst nicht in die Alpen gehen!« rief Benassis. »Ein Mann wie du, ein Ehrenmann voller guter Eigenschaften, muß seinem Vaterlande dienen, eine Brigade befehligen, und nicht mit einer Gemse abstürzen. Das Leben, das du führst, bringt dich geradewegs ins Bagno. Deine übermäßigen Arbeiten zwingen dich zu langen Ruhepausen; auf die Dauer wirst du die Gewohnheiten eines müßigen Lebens annehmen, das jede Vorstellung von Ordnung in dir zerstören, das dich daran gewöhnen würde, deine Kraft zu mißbrauchen und dir selber Recht zu verschaffen; und ich will dich trotz deines Widerstrebens auf den guten Weg bringen.«

      »Ich soll also vor Langeweile und Kummer verrecken! Ich erstick', wenn ich in einer Stadt bin. Ich kann's nicht länger als einen Tag in Grenoble aushalten, wenn ich Louise dorthin bringe …«

      »Wir alle haben Neigungen, die wir entweder bekämpfen oder zu unseresgleichen Nutzen und Frommen anzuwenden lernen müssen. Aber es ist spät, ich hab's eilig. Du sollst morgen zu mir kommen und mir deine Flinte bringen, dann wollen wir von alledem plaudern, mein Kind. Leb wohl. Verkauf deine Gemse in Grenoble.«

      Die beiden Reiter entfernten sich.

      »Das nenne ich einen Mann,« sagte Genestas.

      »Ein Mensch auf üblem Wege,« antwortete Benassis. »Doch, was tun? Sie haben ihn gehört. Ist's nicht jammervoll, solch schöne Eigenschaften verlorengehen zu sehen? Angenommen, der Feind überzöge Frankreich mit Krieg, so würde Butifer an der Spitze von hundert jungen Leuten in der Maurienne einen Monat lang eine Division aufhalten; in Friedenszeiten aber kann er seine Energie nur in Situationen entfalten, wo den Gesetzen Trotz geboten wird. Er muß irgendwelche Kraft zu besiegen haben. Wenn er sein Leben nicht wagt, kämpft er mit der Gesellschaft und hilft den Schmugglern. Dieser Leichtfuß fährt allein auf einem kleinen Boote über den Rhone, um Schuhe nach Savoyen zu bringen; rettet sich schwer bepackt auf eine unzugängliche Bergspitze, wo er zwei Tage, von Brotrinden lebend, bleiben kann. Kurz, er liebt die Gefahr wie ein anderer den Schlaf liebt. Durch den vielfachen Genuß der Freuden, welche außergewöhnliche Sensationen erregen, hat er sich

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