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Justus. Beatrice Lamshöft
Читать онлайн.Название Justus
Год выпуска 0
isbn 9783738079258
Автор произведения Beatrice Lamshöft
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
Sie schüttelt den Kopf. „Nein … Es ist nur … Ich hatte eine schwere Grippe. Ich bin wohl noch nicht drüber weg. Muss nur mal ein bisschen verschnaufen. Vielleicht können wir etwas langsamer gehen?“
„Können wir. Aber wenn es nicht mehr geht, ich kann auch ein Taxi rufen!“
Er betrachtet ihr Gesicht, die bläulichen Schatten unter ihren Augen und die blutleeren Lippen. Sie sieht wirklich nicht gesund aus, denkt er, viel zu blass. Doch vielleicht ist es auch nur das fahle Licht der Straßenlaternen, das alles ein wenig geisterhaft erscheinen lässt. Er überlegt, wo sie sein könnten. Diesen Stadtteil kannte er nur aus dem Auto. Oft fuhr er nicht einmal selbst, sondern ließ sich von einem Mitarbeiter irgendwohin bringen, um während der Fahrzeit noch schnell seine E-Mails beantworten zu können. Wahrscheinlich hatte er diesen Ort schon tausendmal passiert, ihn dabei jedoch nie bewusst wahrgenommen, ganz besonders nicht im Dunkeln.
Er schaut auf Marie, die ihren Rücken an die Glasscheibe lehnt und ihre Augen geschlossen hat. Warum ist sie auf das Hochhaus gestiegen, welcher Schmerz ist so groß, dass sie ihr Leben beenden wollte? Oder ist sie psychisch krank? Eine schwere Depression vielleicht. Medikamente und Therapien halfen nicht immer, er weiß es nur zu gut. Was würde er selbst sagen, wenn Marie ihn nach seinem Grund fragen würde? Was hatte ihn auf das Dach getrieben? Die Leere, diese vollkommene innere Leere, die jeden erdenklichen Lebenssinn sofort absorbierte und in sich auflöste. All diese vergeudeten Therapiestunden, in denen er über die Leere philosophiert und versucht hatte, ihr Wesen in Worte zu fassen, um sie endlich zu begreifen, um sich endlich von ihr befreien zu können.
Doch sosehr er sich auch bemüht hatte, es hatte ihm einfach nicht zu seiner Zufriedenheit gelingen wollen, und als er schließlich resigniert aufgegeben hatte, hatte Dr. Sein, sein Therapeut, all seine vergeblichen Versuche mit den lakonischen Worten resümiert: Nichts ist nichts und bleibt nichts. Das war so offensichtlich, beinahe hätte er darüber lachen können.
Nein, er wäre niemals gesprungen, wahrscheinlich weil ihm die tiefe Verzweiflung fehlte, die Menschen freiwillig in den Tod trieb. Zu so einer starken Empfindung war er nicht fähig. Seine Gefühle, Liebe, Mitleid, Freude, aber auch Traurigkeit oder Wut, sie waren ihm irgendwie abhandengekommen. Als gäbe es für ihn keinen Grund mehr zu fühlen, weil es doch zu nichts führte. Nichts. Leere. Tod. Bis Marie die Tür öffnete.
Er überlegt, ob er sich neben sie setzen soll, damit sie reden können. Wie in amerikanischen Filmen. Listen, we’ve got to talk! Ach nein, dies ist ja kein Film. Es ist die Realität, es gibt kein Drehbuch, keine Regieanweisung. Er beschließt, es sein zu lassen und damit zu warten, bis sie einander besser kennen. Irgendwann wird der richtige Zeitpunkt kommen.
Marie öffnet ihre Augen und atmet tief ein. Er ergreift ihre Hände und zieht sie zu sich hoch, nimmt sie in die Arme, um sie zu wärmen und ihr Halt zu geben. Eine Weile schauen sie sich ernst in die Augen, ohne ein Wort zu sprechen.
„Ich glaube, du hast mir das Leben gerettet!“, sagt er.
„Ich glaube, wir haben uns gegenseitig gerettet!“, sagt Marie.
Es klingt wie eine nüchterne Feststellung, eine Aussage, die auf einem Polizeirevier zu Protokoll gegeben wird. Wahrscheinlich ist ihr Zusammentreffen nichts weiter als die logische Folge der Verkettung von Ereignissen und Umständen, die sie beide nicht übersehen können. Doch ganz gleich, welche Logik zu ihrer Begegnung führte, es fühlt sich an wie ein Wunder.
Die schnurgerade Straße, auf der sie laufen, ist lang und einsam, keine Geschäfte, nur mehrstöckige weiß verputzte Wohnhäuser, die der Architektur nach zu schließen Anfang der Achtziger errichtet wurden. Die Parkplätze sind mit ordentlich angelegten Blumenrabatten voneinander abgetrennt. Am Straßenrand stehen im Wechsel junge Platanen und neonostalgische Straßenlaternen. Sie vermitteln das Bild heimeliger Wohnidylle, Markenzeichen für Lebensqualität und gehobenen Wohlstand.
Justus und Marie gehen weiter, ohne zurückzublicken. Arm in Arm wandern sie ziellos durch die saubere Straße, umtanzt von ihren eigenen Schatten, die ihnen im Licht der Laternenkette gleichermaßen folgen wie vorauseilen, bis ihnen plötzlich vollkommen unvermittelt ein kleines Mädchen aus dem Dunkel einer Seitengasse direkt vor die Füße läuft. Zunächst ist die Kleine erschrocken, dann aber fängt sie sich, tritt zwei Schritte zurück und lacht laut glucksend, sichtlich amüsiert über ihre eigene Tollpatschigkeit. Ihre Zähne zeigen eine starke Verfärbung, die zweifellos von der roten Zuckerlasur des Paradiesapfels herrührt, den sie in ihrer rechten Hand hält. Die Zähne, denkt er, wie in dieser Zahnpastawerbung aus den Achtzigern. Oder waren es die Neunziger? Das Mädchen hat dunkelbraune Locken, die ihm bis zu den Schultern reichen, und es trägt einen rosafarbenen langen Mantel mit aufwendiger Blumenstickerei. Eine kleine Prinzessin.
„Paulina, wo bist du? Komm schon, wir wollen fahren!“, ruft eine Frau.
„Hier, Mama“, antwortet das Mädchen, „hier bin ich doch!“
Ohne sich zu verabschieden läuft es zu einer schwarzen Limousine und steigt ein.
„Süße Kleine, nicht?“, sagt Marie, während sie langsam eine Haarsträhne um ihren rechten Zeigefinger wickelt. „Ich hatte früher auch solche Locken. Jetzt nicht mehr, jetzt sind meine Haare ganz glatt. Schade, eigentlich.“
„Kannst du dich an diese alte Zahnpastawerbung erinnern?“ fragt er, auf einmal ganz munter. „Der, in der die Frau sich die Zähne putzt und dann diese Pille zerkauen muss und in den Spiegel schaut und sagt: 'Ohhh! Alles rot!'“
Marie schüttelt den Kopf. „Nein, die kenn ich nicht.“
Er sieht auf ihren Finger, der sich ungeschickt zappelnd aus der verdrehten Haarsträhne befreit.
„Ist nicht so wichtig“, flüstert er.
Sie haben als Kinder wohl kaum die gleiche Werbung gesehen, dazu ist ihr Altersunterschied viel zu groß. Für einen Moment hatte er es vergessen.
„Da drüben scheint was los zu sein. Ein Jahrmarkt oder so was.“ Marie zeigt auf ein Fenster, in dem sich bunte Lichter spiegeln.
Sie fassen sich an den Händen und verlassen die helle Straße.
Fünf Jahre später, 16. November 1987
Er konnte nicht mehr schlucken, nicht mal seinen eigenen Speichel, und sein Hals brannte, als hätte er von Angelinas Tomatensoße speciale, gegessen, die sie nur ein einziges Mal zubereitet hatte, weil sie damit, wie der Großvater gesagt hatte, weil sie damit um ein Haar die ganze Familie umgebracht hätte, so scharf war sie gewesen.
Angelina hatte ihm eine kleine Metallschüssel gebracht, in die er nun alle paar Minuten hineinspuckte. Der Speichel zog lange Fäden, er war klebrig wie Tapetenkleister, und er hatte Mühe, seinen Kopf so weit hochzuhalten, dass er beim Spucken nicht ständig sein Kinn besabberte.
Es war acht Uhr morgens. Die Nacht war die Hölle gewesen, er hatte kaum ein Auge zugemacht. Angelina und Tante Cordula hatten abwechselnd bei ihm Wache gehalten und das Fieber kontrolliert, das gegen Mitternacht vierzig Grad erreicht hatte. Daraufhin wurde entschieden, ihm ein dickes Zäpfchen in den Po zu schieben, was er unter anderen Umständen wohl strikt verweigert hätte. Wegen der schrecklichen Schmerzen ließ er die unangenehme Prozedur jedoch kommentarlos über sich ergehen, als wäre er Gustav, der Rauhaardackel seines Großvaters. Der hasste nichts so sehr, wie gebadet zu werden. Sobald irgendwo das Rauschen von Wasser zu hören war, nahm er Reißaus. Hatte man ihn jedoch rechtzeitig geschnappt und in die Wanne gesetzt, erduldete er das Einseifen und Abbrausen widerstandslos wie ein braves Opferlamm, wobei er einen mit gesenktem Kopf und großen traurigen Augen ansah, als wollte er sagen: Da, schau mich an, du hast meinen Stolz gebrochen und mein Herz sowieso, aber wen interessiert