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von denen er eins für „das arme Geburtstagskind“, wie er sagte, auf einen Teller gelegt und zu ihm herübergeschoben hatte, ohne Sahne draufzugeben, denn es gab keine Sahne an diesem Tag und auch keinen Kakao. Dann hatte er sich selbst ein großes Stück genommen. Und kurz danach noch eins. Justus hatte seinen Kuchen gegessen, ohne den Zauberer auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er war ein großer blasser Mann mit langen schwarzen Haaren und fiesen Pickeln im Gesicht, sieben genau, zwei auf der Stirn, drei auf der rechten und einem auf der linken Wange und einem am Kinn, direkt neben dem tiefen Grübchen. Der Zauberer hatte die Kuchenstücke in sich hineingestopft, als hätte er ganz lange nichts zu essen bekommen. Sein Gesicht sah so käsig weiß aus, alles an ihm war farblos, bis auf die Pickel und den dunkelblauen Samtanzug, den er trug.

       Der Gedanke, dass der Zauberer womöglich seinen ganzen Geburtstagskuchen allein aufessen würde, war ihm unerträglich gewesen. Er hätte etwas zaubern sollen, dann hätte er sich den Kuchen verdient. Aber so? Justus hatte ihm so viel Kuchen weggegessen, wie er schaffte, drei große Stücke, dann konnte er nicht mehr, weil ihm schlecht geworden war. Inge, die vor Mama immer Reißaus genommen hatte, hatte nichts von dem Kuchen haben wollen. Sie hatte nur geweint, die ganze Zeit, und ihre Augen waren ganz rot und geschwollen gewesen. Außerdem hatte sie ganz stark geschwitzt. Vielleicht weil sie schon alt war, oder es kam vom Weinen. Ihr Schweiß stank ganz widerlich. Sie war immer wieder zu ihm gekommen und hatte ihn fest an sich gedrückt. Das war unglaublich ekelhaft gewesen. Wenn er nur daran dachte, wurde der Brechreiz unerträglich.

       Tante Cordula schluchzte wieder auf. „Papa“, sagte sie, „jetzt sind sie wieder da!“

      „Ja“, antwortete der Großvater mit heiserer Stimme, „es muss wohl sein.“

       Am Morgen waren Männer gekommen. Einer mit einem blauen Wagen und zwei Polizisten in einem Polizeiauto. Die Männer hatten sich mit dem Großvater gestritten. Er hatte nicht verstehen können, worum es ging, die Leute hatten am Hauseingang gestanden, und er war zu weit weg gewesen. Er hatte auf der Schaukel im Garten gestanden, weil er so ein bisschen besser sehen konnte, was vor dem Haus vor sich ging. Tante Cordula hatte ihn an diesem Morgen angezogen. Sie hatte ihn im Garten gefunden, ihn auf den Arm genommen, ins Haus getragen und ihm in die Kleider geholfen. Er hatte sich nicht selbst anziehen dürfen. Mama wollte immer, dass er es selbst tat, aber Tante Cordula erlaubte es nicht. Sie hatte ihn angezogen bis auf die Schuhe. „Da!“, hatte sie gesagt, „zieh die an, und dann geh zurück in den Garten, ich komm gleich nach.“

       Ausgerechnet die schwarzen Schuhe hatte sie ihm gegeben. Wo sie doch Schnürsenkel hatten und er keine Schleife binden konnte. Dann waren die Männer gekommen, gerade als er rausgelaufen war, mit offenen Schuhen. Er war nicht stehen geblieben, sondern rüber zur Schaukel gerannt und hatte sich daraufgestellt. Dort durfte er sein, das wusste er, das war sein Ort im Garten, die Schaukel, sie gehörte ihm wie das Kinderzimmer, ganz sicher.

       Der Großvater war herausgekommen. Die Männer hatten etwas gesagt, und der Großvater hatte gebrüllt, wie Justus es noch nie gehört hatte. Aber dann, ganz plötzlich, mitten im Satz, hatte er sich umgedreht und war ins Haus zurückgegangen. Der Mann und die beiden Polizisten waren ihm einfach gefolgt. Einen Augenblick später war Tante Cordula zu ihm in den Garten gekommen. Und dann hatte sie ihm gezeigt, wie man Schuhe band: so und so und dann so, immer wieder, so und so und dann so. Sie war zur Seite gegangen, und er hatte das Gleichgewicht verloren, war von der Schaukel gefallen und hatte sich sein rechtes Knie aufgeschlagen. Genau in diesem Moment war der große schwarze Wagen mit dem Sarg für Mama gekommen. Er war nicht aus Glas gewesen wie bei Schneewittchen.

       Justus spürte die Hand des Großvaters, die erneut sanft seine Schulter drückte. „Komm, Justus“, sagte er. „Wir müssen die Mama jetzt gehen lassen.“

       Tante Cordula weinte schrecklich laut. Der Großvater zog sie und Justus aus dem Raum. Vor der Tür standen Papa und zwei Männer in schwarzen Anzügen. Papa sah nicht zu ihm hinunter, um ihn zu begrüßen, sondern starrte nur auf die Tür des Esszimmers, die einen Spaltbreit offen stand. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Justus ihn sah. Papa wirkte nicht, als hätte er geweint. Aber sein Gesicht war so, als wäre es eingefroren, ganz unbeweglich und grau. Er ging zu Mama hinein, und Justus wusste, dass er sie nicht wachküssen konnte. Seine Knie begannen zu zittern, und nun war die Übelkeit plötzlich so schlimm, dass er ganz dringend wo hinlaufen musste, um sich zu übergeben. Er ließ alle anderen stehen und rannte hinaus in den Garten. Seine Beine fühlten sich so merkwürdig an, als wollten sie einschlafen und nicht laufen.

       Am Kirschbaum blieb er stehen. Dort hatte er am Morgen gepinkelt. Er glaubte, den Urin zu riechen, aber er roch nicht wie Pipi, sondern wie der Schweiß von Inge. Justus übergab sich. Er würgte den süßen braunen Geburtstagskuchen aus sich heraus, bis sein Magen leer war und er sich besser fühlte. Als er sich aufrichtete und wieder zum Haus zurücktrottete, bemerkte er den schwarzen großen Wagen, den er schon am Vormittag gesehen hatte. Die beiden schwarz gekleideten Männer kamen aus dem Haus. Sie trugen den Sarg, in dem Mama lag. Nun war ein Deckel drauf. Vielleicht war Mama aber auch gar nicht mehr in dem Sarg. Vielleicht wollten die Männer nur den Sarg zurückhaben und Mama war immer noch im Haus.

       Papa kam heraus. Er schaute zu ihm herüber und nickte.

       Justus' Herz brannte. Es tat ganz furchtbar weh. Und seine Beine wollten nicht mehr stehen. Sie knickten ein, und er fiel auf den Boden. Er weinte, weil er glaubte, nun nie mehr laufen zu können, und weil er es wusste.

       Sie nahmen Mama mit. Und er würde sie nie mehr wiedersehen.

      30. April 2012

      „Wo sind wir?“, fragt Marie.

      Sie hat sich bei ihm untergehakt und spaziert mit ihm durch die Straßen Frankfurts, wohl darauf vertrauend, dass er den Weg kennt.

      „Ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht so genau. Aber ich glaube, wir sind genau richtig!“ Er legt ihr den Arm um die Schulter und küsst sie auf den Kopf.

      Sie hatten das Dach verlassen und die Stahltür hinter sich abgeschlossen. Dann waren sie die Treppe hinuntergestiegen, hatten den Aufzug genommen und im dritten Stock angehalten. Dort hatte Justus Marie kurz allein gelassen, um seinen Mantel aus dem Büro zu holen. Auf dem Weg ins Foyer im Erdgeschoss, wo er den Schlüssel für das Dach wieder in die Schublade unter den Überwachungsmonitoren zurücklegte, dachte er daran, dass er Marie nicht hätte retten können, wenn er nicht selbst mit dem Gedanken gespielt hätte, sein Leben zu beenden. Und sie hatte ausgerechnet dieses Hochhaus ausgewählt, vielleicht das einzige weit und breit, dessen Tür zum Dach an diesem Abend nicht verschlossen gewesen war.

      Unsere Begegnung, es ist, als wäre es Vorsehung, geht es ihm immer wieder durch den Kopf, während er versucht, in der Dunkelheit etwas Vertrautes zu entdecken, das ihm verraten würde, wo genau sie sich befanden.

      War ihr Zusammentreffen tatsächlich vorherbestimmt oder war es doch nur ein glücklicher Zufall? Je bedeutungsvoller ein Ereignis für uns ist, überlegt er, desto eher sind wir geneigt zu glauben, dass es so kommen musste, weil es geplant war, von Gott, einer universellen Macht, oder einer höheren Bewusstseinsebene, von wem oder was auch immer. Ein schwerer Schicksalsschlag, eine unvorhersehbare glückliche Fügung, die das ganze Leben veränderte … Wie konnte man einfach hinnehmen, dass solche Dinge nur zufällig geschahen? An den Zufall zu glauben, das ist wie ein Eingeständnis der eigenen Bedeutungslosigkeit. Oder nicht? Die Gleichgültigkeit des Lebens gegenüber der ewigen Sinnsuche des Egos.

      Aber Vorsehung? Ein vorherbestimmtes Schicksal, womöglich schon vor der Geburt festgelegt? Nein, an so etwas konnte er noch viel weniger glauben. Er ist weder religiös noch ist er Atheist. Was aber ist er dann, wo soll er sich einordnen? Eigentlich, denkt er und drückt Marie so fest an sich, dass sie fragend zu ihm aufschaut, eigentlich war ich im Grunde meines Herzens immer nur ein bekennender Zweifler, resistent gegen jede Form von Überzeugung.

      Sie zeigt auf eine Bushaltestelle.

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