Скачать книгу

und er atmete tief ein. Dann setze er seinen Weg fort, lief über den englischen Rasen, vorbei an den Rosen, die noch nicht blühten, weiter zur großen Speckkirsche, vor der er stehen blieb. Schnell zog er seine Schlafanzughose ein Stück herunter und pinkelte wie ein Mann, so wie Tilman es ihm gezeigt hatte. Vom Druck erleichtert schloss er die Augen und sah seine Mutter, sah ihren regungslosen Körper in der Wanne liegen. Sie hatte geschlafen. Oder nicht? Ein kaltes Kribbeln kroch seinen Rücken hinunter, über den Po, bis zu seinen Kniekehlen, als würde ihm jemand Wasser über die Schulter gießen.

       Unschlüssig, wohin er nun gehen sollte, trottete er zum Gemüsegarten hinüber, betrat die Wiese dahinter, wo seine Mutter am Vorabend mit ihren Freunden gefeiert hatte. Es roch nach verbranntem Holz und Bier. Überall lagen leere Flaschen herum. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den hellrosa gefärbten Himmel. Das Bild seiner Mutter kam ihm wieder vor Augen, und er erinnerte sich daran, dass das Wasser in der Badewanne auch rosa ausgesehen hatte, als hätte jemand rote Farbe hineingeschüttet.

       Deine Mama ist im Himmel, flüsterte eine leise Stimme in ihm. Schnell schüttelte er seinen Kopf, um den dummen Gedanken sofort wieder loszuwerden.

       Er nahm sich einen Stock und stocherte in der immer noch warmen Asche des Lagerfeuers herum. Plötzlich entdeckte er einen glänzenden Gegenstand, der zwischen all dem Schmutz in der Sonne blinkte. Es war der silberne Anhänger seiner Mutter. Gestern haben sie gefeiert, und heute ist der 1. Mai, dachte er. Ja, heute ist mein Geburtstag, mein Ehrentag, da kann ich mich ganz doll freuen! Doch er schaffte es nicht, das wunderbare magische Gefühl wieder heraufzubeschwören, das ihn beim Aufstehen so angenehm überrascht hatte, das eigentlich zu diesem besonderen Ereignis dazugehörte wie Sahne auf einem Geburtstagskuchen.

       Eine ängstliche Ungewissheit hatte sich in ihm eingenistet und wollte einfach nicht weichen, denn er glaubte, etwas sehr Verbotenes getan zu haben, von dem er inständig hoffte, es bliebe unbemerkt. Aber es war ja viel mehr als nur das. Etwas Unheimliches lag in der Luft, so wie der Schatten eines furchterregenden Dinosauriers. Reglos lauerte er im Hinterhalt und beobachtete sein Opfer. Und bald schon, ganz bald würde er zuschlagen.

       Justus angelte den spiralförmigen Anhänger aus der Asche. Seine Mutter nannte ihn Amulett. Was Amulett genau bedeutete wusste er nicht, vielleicht war es so etwas wie ein Talisman, ein Glücksbringer. Sein Großvater hatte einen, eine ausgestopfte Hasenpfote. Mama mochte sie nicht, obwohl sie sich so schön weich anfühlte.

       Nachdenklich betrachtete er das Schmuckstück in seinen Händen und fragte sich, ob seine Mutter es versehentlich fallen gelassen oder absichtlich ins Feuer geworfen hatte. Sorgfältig wischte er es an seinem Frotteeschlafanzug ab, um es zu säubern. Mama würde sicher sehr froh sein, wenn er ihr das Amulett zurückgab. Sollte sie ihn an diesem Morgen doch bemerkt haben und deshalb verärgert sein, dann würde er ihr den Anhänger geben, und sie würde sagen: Oh, Justus, mein Schatz, du hast ihn gefunden, das ist aber lieb von dir. Vielen Dank!

       Ganz bestimmt wäre dann alles wieder gut.

       Oder nicht?

      30. April 2012

      Die schwere Stahltür des Treppenhauses ächzt. Eine schmale, unscheinbare Gestalt schiebt sich durch den offenen Spalt. Er starrt sie an. Es ist eine Frau, schmächtig, in einem langen, viel zu großen weißen Mantel, keine zehn Meter von ihm entfernt. Dunkelbraune schulterlange Haare verdecken ihr Gesicht. Ihre Bewegungen sind langsam. Wie ein ferngesteuerter Roboter schreitet sie in Richtung Abgrund, ihre Seele scheint nicht zu Hause zu sein.

      Er weiß, dass sie springen wird, so wie er plötzlich weiß, dass er selbst nie gesprungen wäre. Sein Herz hämmert, das Blut schießt ihm in den Kopf. Er muss handeln, es ist keine Zeit nachzudenken. Mit drei Schritten ist er bei der Fremden, reißt sie von der Kante weg, einfach nur weg. Sie fallen auf das Dach, auf die graue, spröde Dachpappe. Sie schreit nicht, wehrt sich nicht, liegt nur da, zusammengekrümmt wie ein Embryo, ihm den Rücken zugewandt. Er hält sie umschlungen, spürt, wie heftig sie zittert, so wie er selbst auch. Und dann hört er ein Wimmern, das klingt wie das Wehklagen eines jungen Hundes, den man gerade noch vor dem Ertrinken gerettet hat. Vorsichtig streichelt er ihren Kopf, fühlt ihre weichen Haare.

      Er weint. Ob aus Erleichterung, Verwirrung oder aus Angst, er weiß es nicht. Minutenlang umklammert er ganz fest den schmächtigen Körper der Frau, deren Gesicht er nicht kennt. Sie wehrt sich nicht.

      Die Erde dreht sich weiter, lässt die Sonne endgültig hinter den Häusern verschwinden, und die Dunkelheit der Nacht fällt wie ein schwarzes Tuch auf die Stadt herab. Die Augen schweigen ohne Licht. Irgendwann ist auch sein Zittern verstummt, und er kann loslassen.

      Er atmet ruhig und gleichmäßig. Die Fremde löst sich zaghaft aus seiner Umarmung und dreht sich zu ihm, sie ist ihm so nah, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürt. Er betrachtet sie, sieht in ein fein gezeichnetes blasses Gesicht mit großen dunklen Augen. Ihr sanft geschwungener schmaler Mund steht ein wenig offen, als wollte sie etwas sagen, aber sie weiß wohl nicht, was.

      Vorsichtig streicht er mit den Fingerspitzen über ihre Wangen und ihren schmalen Nasenrücken. Es ist ihr nicht unangenehm, sie lächelt sogar. Ihre Haut ist glatt und zart. Wie alt sie wohl ist, überlegt er. Kaum älter als Anfang zwanzig. Er möchte etwas Tröstendes sagen, doch er fürchtet, dass in diesem Moment jedes noch so gut gemeinte Wort unsensibel erscheint. Es ist eine zerbrechliche Nähe, die sie teilen. Er darf sie nicht zerstören, egal wie fremd sie sich sind.

      Eine gefühlte Ewigkeit liegen sie so da, blicken einander an, ohne sich zu erklären. Dann küsst er ihre Stirn, und sie nickt, als wollte sie ihre Zustimmung signalisieren. Sie legt ihre Hand auf seine Wange, und die Wärme ihrer Berührung läuft wie ein warmer Regen durch seinen Körper. Es ist ein so unerwartetes Glücksgefühl, dass er plötzlich lachen muss.

      Die junge Frau lächelt, sie scheint seine Reaktion zu verstehen. Er küsst ihren Mund und sie lässt es geschehen, erklärt sich einverstanden, indem sie sanft den Druck seiner Lippen erwidert. Hätte er sie nicht rechtzeitig erreicht, ihr Körper würde nun zerschlagen auf dem Asphalt liegen. Aber sie lebt, sie ist nicht tot, und sie ist ihm auf wundersame Weise ganz nah.

      Ihr gemeinsames Schweigen dauert an, umschließt sie wie eine feste Mauer. Es ist eine stille Übereinkunft, dass sie einander nicht infrage stellen wollen. Erklärungen sind nicht wichtig. Es gibt immer einen Grund. Alles was in diesem Augenblick zählt, ist ihre Gemeinsamkeit, ihr Nicht-Allein-sein.

      Sie streichelt seinen Kopf, küsst seine Augen, sein Gesicht auf der Suche nach seinen Lippen. Und während er es geschehen lässt, aber noch zögert, ihre immer intimeren Zärtlichkeiten zu erwidern, wird ihm plötzlich bewusst, wo sie sich gerade befinden. Er denkt an die Menschen, die weit unter ihnen in der Stadt unterwegs sind, um nach einem langen, arbeitsreichen Tag nach Hause zu gelangen. Sie haben ein geregeltes Leben, fahren mit dem größten Selbstverständnis durch den geordneten Verkehr und glauben vermutlich, genau zu wissen, was Gut und Böse, was richtig und falsch ist. Doch auf diesem Dach, auf dem er und die junge Frau liegen, hoch über den Straßen Frankfurts, auf diesem Dach, das so wenig einladend wirkt und ganz sicher nicht gemacht ist, um Liebende zu empfangen, scheinen ihm alle Gesetze und Regeln, alle Annahmen darüber, was für Menschen richtig und falsch ist, nur noch so bedeutsam wie das entfernte Echo einer Welt, die längst vergessen hat, wie sich Wahrheit anfühlt.

      Wenn sie es will, denkt er, dann will ich es auch, dann soll es so sein, und er beugt sich über sie, um ihren offenen Mund mit einem Kuss zu schließen. Sie streifen ihre Kleider ab, begierig, einander zu berühren. Er liebt sie, ganz sanft. Sie ist so jung, wirkt so zerbrechlich und unerfahren. Er will ihr nicht wehtun, bewegt sich vorsichtig, wartet ab, bis sie sich sicherer fühlt. Ihre Haut, ihr sanfter Mund, ihre Augen, die sich halb schließen und wieder öffnen, die weichen dunklen Haare, die Wärme ihres Körpers, er taucht ein und wieder auf, so oft und so tief, bis er vollkommen eins ist mit der Bewegung, dem Moment, in dem sich das Selbst dem fühlenden Körper hingibt. Sie spürt es, umklammert ihn mit ihren Armen und Beinen.

      Er

Скачать книгу