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es. Und es ist gut, und es ist richtig, egal was war, egal was kommt. Wie heißt es doch? Gott fühlt mit den Liebenden, oder so ähnlich.

      „Hey, alles in Ordnung?“ Seine Stimme klingt wie der Ruf aus einer Realität, von der er einen Augenblick zuvor noch geglaubt hatte, sie weit hinter sich gelassen zu haben. Sie lächelt verlegen, und er zieht sie näher zu sich heran, um sie zu wärmen. „Wie heißt du?“, flüstert er ihr ins Ohr.

      „Marie“, sagt sie leise. „Und du?“

      „Justus.“

      Sie schaut ihn an und lächelt, streichelt mit den Fingerspitzen sein Gesicht.

      „Justus, der Gerechte! Richtig?“

      Er nickt und würde gern etwas Geistreiches erwidern, aber ihm fällt nichts ein. „Marie, wie wäre es, wenn wir umziehen würden?“

      Sie hebt die Augenbrauen. „Umziehen? Wohin denn?“

      „Ich weiß nicht, an einen behaglicheren Ort. Hier möchte ich jedenfalls nicht mehr bleiben. Und du?“

      Marie schüttelt den Kopf.

      Sie stehen auf und suchen ihre Kleider zusammen. Ein Gegenstand fällt aus seiner Hosentasche, und Marie hebt ihn auf.

      „Das war in deiner Tasche!“, sagt sie und hält den verrosteten Nagel hoch.

      Er nimmt ihr den offensichtlich nutzlosen Gegenstand aus der Hand und schaut ihn nachdenklich an, als hätte er einen lange verlorenen Schlüssel wiedergefunden.

      „Ja, der gehört mir“, sagt er und steckt den Nagel wieder ein.

      Marie schüttelt den Kopf und lächelt, offenbar unsicher, ob dies nun nur ein kleiner Scherz ist, oder ob der alte verbogene Nagel tatsächlich irgendeinen Wert besitzt, sodass es Sinn machte, ihn aufzubewahren. Sie wendet sich ab und schlüpft in ihre Kleidung, Unterwäsche, ein braunes Wollkleid, schwarze Strümpfe und Schuhe. Zum Schluss wickelt sie sich in den weißen, viel zu großen Mantel. Ihr Atem geht schnell. Sie fröstelt. Einen Moment hat es den Anschein, als wollte sie sich auf den Boden setzen, doch dann geht sie die paar Schritte zum Treppenhausausstieg und stützt sich an der Mauer ab.

      „Geht es dir gut? Alles in Ordnung?“, fragt er.

      Sie nickt. „Es ist … nichts. Ich bin okay. Mir ist nur kalt.“

      Er knöpft sein Hemd zu und geht zum Rand des Daches hinüber, um hinunter auf die Straße zu blicken, die mittlerweile durch Straßenlaternen erhellt wird. Auf der gegenüberliegenden Seite scheint immer noch der alte Mann im Fenster zu stehen, unbeweglich und kaum sichtbar im Halbdunkel der nächtlichen Beleuchtung. Er fixiert das Fenster, versucht, in den dunklen Schatten die Konturen der Person auszumachen, und auf einmal ist ihm, als hätte sich der Alte bewegt und schaute ihm nun geradewegs in die Augen.

      „Justus? Kommst du?“

      Maries Stimme klingt ängstlich. Er dreht sich um und nickt ihr aufmunternd zu. Nein, er will nicht sterben, er will leben.

      1. Mai 1982

       Die jungen Birkenbäumchen rechts und links des Sarges waren mit weißen Bändern geschmückt, schlicht, aber dennoch dekorativ, und sie ließen seine Mutter mit ihren langen dunklen Haaren, der blassen weißen Haut und ihrem zierlichen Körper, den man mit einer cremefarbenen Spitzenbluse bekleidet und bis zur Hüfte mit einem weißen Laken zugedeckt hatte, sie ließen seine Mutter aussehen wie Schneewittchen, die im Wald in einem Sarg gelegen hatte. Schneewittchen über den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, Schneewittchen, die sterben musste, weil ihre böse Stiefmutter, eine Hexe, eifersüchtig gewesen war und sie mit einem Apfel vergiftet hatte. Aber sie war ja gar nicht tot gewesen. Sie hatte ja nur geschlafen, bis der Prinz gekommen war, um sie wach zu küssen. Seine Mutter hatte ihm die Geschichte vorgelesen.

       Er spürte die Hand seines Großvaters auf seiner Schulter, die zitterte und nicht aufhören wollte zu zittern, und ihm war so übel, so unglaublich übel, dass er keine Traurigkeit empfinden konnte. Alle hatten geweint, nur er nicht. Ihm kam der Gedanke, dass er nun auch endlich weinen sollte, aber er konnte nicht. Ihm war einfach nur wahnsinnig übel. Und sein rechtes Knie brannte. Er fühlte, wie der Stoff seiner Hose an seiner Haut festgeklebte. Eigentlich wollte er in diesem Moment nur eins, sich endlich übergeben, aber das konnte er nicht, denn es gab ja kein Klo im Esszimmer, wo man seine Mutter am Morgen aufgebahrt hatte. Also unterdrückte er den Brechreiz, so gut es ging, was ihm jedoch zunehmend schwerfiel. Immer wieder tief ein- und ausatmen, das half ein bisschen.

       Der Raum war abgedunkelt, wahrscheinlich, damit man die Kerzen besser sehen konnte, die zu beiden Seiten des Sarges brannten. Sechs stolze Soldaten, die die Stille bewachten. Sie standen auf schwarzen bodentiefen Ständern, waren schneeweiß und ein bisschen dicker als die schmalen Stämmchen der jungen Birken dahinter. Justus starrte in die Flammen. Sie bewegten sich, wenn die Tür geöffnet wurde und jemand eintrat oder den Raum wieder verließ.

       Niemand hatte die Kerzen auf seiner Geburtstagstorte angezündet. Alle Geschenke waren noch eingepackt. Sie lagen im Wohnzimmer auf dem Tisch mit den goldenen Löwenbeinen. Zwei große standen daneben. Der Raum war mit Luftballons und Girlanden geschmückt, in Blau und Rot, seinen Lieblingsfarben. Mama hatte sie aufhängen lassen und geschimpft, weil sie fand, dass es nicht genug waren. Dann war sie in die Badewanne gegangen. Dann hatte sie Kopfweh bekommen. Dann hatte sie sich schön gemacht. Dann hatte sie sich hingelegt. Dann waren die Gäste gekommen. Dann hatte sie getanzt. Dann war sie wieder in die Badewanne gegangen. Dann war sie gestorben.

       An der Lampe im Esszimmer hatten auch Ballons gehangen, mehr rote als blaue. Jemand hatte sie weggenommen. Jetzt lag Mama da, in einem Sarg. Und sah aus wie Schneewittchen. Genau so, wie sich jeder Schneewittchen vorstellen würde. Aber Papa war kein Prinz, er konnte Mama wohl nicht wachküssen. Und kein richtiger Prinz würde kommen und es tun, denn kein richtiger Prinz hätte Schneewittchen geküsst, wenn sie schon verheiratet gewesen wäre.

       Der Großvater räusperte sich. Es klang viel zu laut. Er hatte ihm zu seinem Ehrentag eine Überraschung für den Nachmittag versprochen. Im vergangenen Jahr war es ein Kettenkarussell gewesen, das er für ihn und seine Gäste im Garten hatte aufbauen lassen. Es war sehr lustig gewesen. Karussellfahren machte schwindelig. Zwei Kinder hatten es nicht vertragen und sich übergeben. Dieses Jahr war die Überraschung ein Zauberer, der nun aber gar nicht zaubern konnte. Er saß bei der Köchin Inge in der Küche und aß und trank und jammerte.

       Justus holte tief Luft. Immer wieder tief ein- und ausatmen, das machte es leichter. Ein bisschen. Die Tür ging auf, die Kerzen flackerten, und Tante Cordula kam herein.

      „Ach, Papa“, sagte sie kaum hörbar.

       Justus drehte sich nicht um, denn er glaubte zu wissen, dass er sich jetzt nicht umdrehen durfte. Genauso war es in der Kirche, wenn er vorn saß. Man durfte sich nicht umdrehen. Das war unanständig.

       Tante Cordula schluchzte. Der Großvater zog seine Hand von Justus‘ Schulter und nahm seine weinende Tochter in den Arm. Er sah nicht, wie der Großvater es tat, aber er spürte es, ganz deutlich. Das Gewicht der Hand hatte schwer auf ihm gelastet. Nun, da sie weg war, fühlte er eine deutliche Erleichterung, die die Übelkeit ein wenig verringerte.

       Der Zauberer hatte ihm von seinem Geburtstagskuchen zu essen gegeben. Es war ein Schokoladenkuchen mit einer Marzipandecke und Aprikosenmarmelade in der Mitte. Auf der Torte hatte sein Name gestanden − Justus in Rot und eine blaue Fünf darunter. Über dem Namen war eine gelbe Sonne gewesen mit blauen Augen und einem roten lachenden Mund und Strahlen, die über den ganzen Kuchen liefen. Am Rand hatten fünf Kerzen gesteckt. Die hätte jemand anzünden sollen, damit er sich etwas hätte wünschen können. Er hätte sich gewünscht, dass Mama wieder aufwacht. Wie Schneewittchen. Vielleicht hätte es nicht geklappt, aber er hätte es ausprobieren können. Doch niemand hatte die Kerzen angezündet, auch der Zauberer nicht.

      

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