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Arzt indes holte eine dicke Spritze aus dem Koffer, bei deren Anblick Justus sogleich weiche Knie bekam. Aber er war ja ein Zimmermann, und er hatte seine ganze Sippe bei sich, die schwer auf seiner Brust lag, seine Familie, an der er sich festklammern konnte. Und sowieso, sein Hals war betäubt, was konnte schon geschehen?

      „So mein Kleiner, bist ein tapferer Junge, jetzt machst du wieder die Augen zu und den Mund weit auf, wie du’s gerade gemacht hast, ja?“

       Er gehorchte. Er war sich sicher, je weiter er den Mund aufriss, desto schneller würde die Prozedur vorbei sein. Und tatsächlich, er spürte lediglich einen kleinen Piks im Hals, sonst nichts. Überrascht öffnete er die Augen.

       Dr. Severin hatte mit der Spritze in die entzündete Mandel gestochen und etwas Flüssigkeit aus ihr herausgesogen. Nun betrachtete er sie und nickte.

      „Wie ich gesagt habe. Ich werde den Abszess jetzt spalten, dann hat der Junge gleich Erleichterung. Brauchst keine Angst zu haben, Justus! Rutsch mal ein bisschen höher mit dem Po und lehn dich an, dass du gleich besser spucken kannst. So, noch ein Kissen hinter den Kopf. Hier, die Schale musst du jetzt festhalten, oder …“ Der Arzt schaute Angelina an, die sogleich einen Schritt zurückwich. „Ach, wenn Sie so nett wären, junge Frau, setzen Sie sich doch gerade auf die andere Seite, und halten Sie die Schale, dann muss der Junge es nicht selbst tun.

       Angelina seufzte. Warum muss ausgerechnet sie es tun?, schoss es ihm durch den Kopf. Warum nicht Tante Cordula oder der Großvater? Seinen Vater zog er nicht in Betracht. Es wäre völlig undenkbar gewesen, ihm so etwas zuzumuten. Er ekelte sich ja schon davor, Hunde zu streicheln, weil er sie für unsauber und bakterienverseucht hielt, was er im Übrigen von allen anderen Tieren ebenso dachte.

       Angelina hielt die Schale, und er riss den Mund auf. Spalten, dachte er. O Gott, was bedeutet denn spalten? Als er das Skalpell in der Hand des Arztes sah, wusste er es.

       Sein Herz klopfte so stark, dass er sein Blut in den Ohren rauschen hörte. Er atmete schnell, seine Knie zitterten, aber Dr. Severin versuchte gar nicht erst, ihn zu beruhigen. Vermutlich wollte er die Sache jetzt, da alles vorbereitet war, ganz schnell über die Bühne bringen.

       Justus schwitzte. Er wollte die Augen schließen, doch er konnte nicht. Stattdessen presste er seinen Kopf so weit in das Kissen, wie es nur ging, und beobachtete, wie das scharfe Instrument in seinen Hals eintauchte. Wieder spürte er weniger, als er befürchtet hatte, und dann bemerkte er eine plötzliche wohltuende Druckentlastung an der rechten Seite seines Halses, die so besonders schlimm wehgetan hatte. Eine Flüssigkeit ergoss sich in seinen Mund. Er würgte.

      „Na, na! Das ist doch nur ein bisschen Eiter. Ganz natürlich. Spuck mal aus!“, sagte der Arzt.

       Er gehorchte. Es mochte ja natürlich sein, aber es blieb ekelhaft, und es stank.

       Dr. Severin nahm ein anderes Instrument, das einem Löffel glich, und drückte damit in Justus Hals herum. Eiter, mit ein wenig Blut vermischt, schoss aus dem Mund in die Schale, aber auch direkt auf Angelinas Hand.

      „Merda!“, entfuhr es ihr.

       Ihre Hand zuckte zurück, doch dann hielt sie ihm die Schale wieder hin.

       Dr. Severin würdigte Angelina nur eines kleinen Seitenblickes, er war zu konzentriert, um sich um die Befindlichkeiten der jungen Frau zu kümmern. Sorgsam drückte er weiter in Justus Hals herum, bis er schließlich zufrieden bemerkte, das sei’s gewesen. Fürs Erste werde es nun reichen, Justus könne wieder schlucken und das Antibiotikum werde das Seine tun, ihn schnell wieder auf die Beine zu bringen.

      Angelina stand auf, einen Schwall italienischer Flüche flüsternd. „Porca vacca! Lo non sono un infermiere. Diamine …“

      „Na, na“, sagte der Arzt. „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen! Was soll unser junger Patient denn von Ihnen denken!“

       Dr. Severin lachte, und der Großvater stimmte mit ein. Er hatte sich im Hintergrund gehalten und kein Wort gesagt, aber nun schien auch er froh zu sein, dass es vorbei war. Er reichte seinem Enkel ein Glas mit kaltem Wasser.

       Justus trank und stellte erleichtert fest, dass ihm das Schlucken nun kaum noch Probleme bereitete. Seine Augen folgten Angelina, die mit langsamen Schritten und angeekeltem Blick den Raum verließ, die Schale mit dem blutigen Eiter so weit wie möglich von sich weg haltend. Der Arzt war immerhin so nett gewesen, ihr etwas zum Desinfizieren ihrer Hände mitzugeben.

       Angelina …

       Was sie nun wohl vor ihm dachte? Ob sie ihn noch mochte? Oh, wie er hoffte, dass nicht sie es gewesen war, die ihm das Zäpfchen gegeben hatte.

      30. April 2012

      Er schaut hinunter. Aus der Höhe des Riesenrades erscheinen die vielen Menschen nur noch als dunkle Punkte, die sich langsam an den Buden des Jahrmarktes vorbeischieben, überstrahlt von leuchtenden Schriftzügen und langen bunten Lichterketten. Der Fluss spiegelt sie wider, lässt ihre Farben auf seinen sanften Wellen tanzen, Rot, Blau, Grün, Gelb, einen Schritt vor, einen Schritt zurück, immer wieder, vor und zurück.

      Am liebsten jedoch betrachtet er das große lodernde Feuer, das von einem Hünen mit breiten Schultern bewacht wird. Mit einem langen Stab stochert der große Mann in der Glut, schiebt Holzscheite zusammen oder verscheucht damit ein paar Kinder, die sich keck immer wieder zu nah heranwagen. Ein paar Meter weiter, in sicherem Abstand zu den Flammen, erhebt sich der Maibaum in die dunkle Nacht. Er bildet den Mittelpunkt einer kleinen, noch leeren Tanzfläche, die von jungen Birkenbäumchen gesäumt ist. Er ist hoch, der Maibaum, der Stamm hat einen ordentlichen Durchmesser, aber von oben gesehen wirkt er dennoch wie ein dünner senkrecht stehender Bleistift, prächtig geschmückt mit einem Kranz und vielen bunten Bändern.

      Marie ist bei ihm, er hält sie im Arm und steckt seine Nase wieder in ihre weichen braunen Haare. Sanft neigt sich die Gondel der Erde zu, bringt sie den vielen Menschen näher, um sich weiterdrehend gleich wieder von ihnen zu entfernen. Sie schweigen, schweben auf und ab, sieben Mal, dann ist die Fahrt vorüber.

      „Das hat gutgetan“, sagt sie, während sie zur Erde herabsinken.

      Es ist ein bisschen ungewöhnlich, von einer Fahrt auf dem Riesenrad zu sagen, dass sie gutgetan habe, aber er glaubt zu verstehen, was sie damit meint, denn er empfindet ganz ähnlich.

      Wieder festen Boden unter den Füßen zu haben fühlt sich im ersten Augenblick ein bisschen merkwürdig an, jetzt erinnert er sich daran, wie es früher gewesen war, wenn er auf einem Karussell gefahren war, er hatte es fast vergessen. Marie nimmt seine Hand und steigt aus der wackelnden Gondel aus. Mit beinahe feierlich anmutenden Schritten geht sie auf das lodernde Feuer zu. Ein alter Mann mit einem weißen Bart, der dem des Weihnachtsmannes Konkurrenz machen könnte, rückt einen Holzschemel an die wärmenden Flammen heran und lässt sich darauf nieder. Sodann hievt er ein schwarzes Akkordeon auf seine Knie, wobei er Marie zunickt, als beabsichtigte er, nun für sie ganz allein zu spielen. Der Schein des Feuers liegt auf seinem faltigen Gesicht, sein Lächeln ist verschmitzt und gutmütig. Und dann fliegen seine Finger über die Tasten und Knöpfe, mit rasender Geschwindigkeit, als wären sie verhext. Er weiß, was er kann. Und er weiß, wie es auf seine Mitmenschen wirkt. Er ist sehr stolz darauf, man sieht es ihm an. Sein Körper bewegt sich zur Musik, doch sein Blick ruht auf Marie, die still und unbewegt in der Mitte der kleinen Tanzfläche steht, ins Feuer starrend wie eine wunderschöne Statue in einem viel zu großen weißen Mantel.

      Er schaut sich um, betrachtet die Menschen, die an ihm vorbeigehen, sieht einen kleinen Jungen auf einem Kinderkettenkarussell und eine junge Frau, die am Rand auf ihn wartet und jedes Mal wild zu winken beginnt, wenn die Gondel mit ihrem Sohn vorbeifliegt. Gleich neben ihr trippelt ein Dalmatiner-Welpe auf der Stelle, aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd, weil ihm sein Herrchen ganz bestimmt jeden Moment ein Stück von seiner

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