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      „Und wieder ein Hauptgewinn! Meine Damen und Herren, jedes dritte Los ist ein Gewinn. Versuchen Sie ihr Glück!“

      Nebenan in der Schießbude werden mit energisch kantigen Bewegungen die Gewehre nachgeladen. Kleine weiße Kunststoffhirsche laufen in endloser Reihe und gleichbleibendem Tempo vor den Läufen der Gewehre entlang. Die meisten überleben, die Schützen sind betrunken.

      Justus lacht und dreht sich um die eigene Achse, ist sein eigenes Karussell, sieht Menschen, Liebespaare, Mütter, Väter, Kinder, Jugendliche, zwei Alte, Hand in Hand, und dann einen Einzelgänger. Ein hagerer Mann, er geht leicht gebückt, die Kapuze seines schwarzen Shirts weit über den Kopf gezogen. Ein Eindringling. Der Sensenmann, ohne Sense allerdings. Vielleicht hat er gar nichts Böses im Sinn, vielleicht will er sich auch nur vergnügen.

      Der Mai ist gekommen!, verkündet die Melodie des Akkordeons und wie bestellt steht Marie plötzlich vor ihm und greift nach seiner Hand.

      „Jetzt müssen wir tanzen, Justus“, sagt sie, lächelnd und ein wenig außer Atem. „Nun komm doch, es ist Mitternacht! Der Mai ist gekommen und wir müssen jetzt tanzen, sonst ist es zu spät!“

      „Ach ja“, erwidert er. Sein Rücken fühlt sich mit einem Mal steif wie ein Stock an. „Es ist nur … Ich kann gar nicht tanzen, ich fand das immer irgendwie lächerlich!“

      „Du musst es nur mal versuchen, Justus. Jeder kann tanzen! Das liegt doch in unserer Natur! Und außerdem, wer weiß, vielleicht wählen sie mich ja zur Maikönigin! Ich war noch nie eine Königin! Also komm schon, tanz mit mir!“

      Entschlossen zieht Marie ihn zu sich heran, umschlingt seine Hüfte und presst ihren Kopf an seine Brust. Dann beginnt sie, ihn hin- und herzubewegen wie eine Mutter, die ihr Kind schaukelt. Erstaunlich, denkt er, sie ist auf einmal wie ausgewechselt, fröhlich und voller Energie.

      In der Nacht zum 1. Mai wird getanzt. So tun es die Lebenden. Und wenn man noch nicht ganz tot ist, sollte man wohl besser mitmachen.

      16. November 1987

       Der Großvater rückte die Kissen zurecht, und Justus rutschte vorsichtig nach oben, bis er einigermaßen gerade saß. Dann zog er die Bettdecke bis unter seine Arme und winkelte seine Knie an, sodass er das große Fotoalbum darauf ablegen konnte. Wann hatten er und der Großvater es zum letzten Mal angesehen? Das war schon eine ganze Weile her. Er kannte die alten Aufnahmen, doch weil es so viele waren, konnte er sie immer wieder neu entdecken. Manche Bilder glaubte er sogar zum ersten Mal zu sehen, was schön war, denn dann konnte er danach fragen und der Großvater erzählte ihm eine kleine Geschichte oder Anekdote dazu.

       Andächtig schlug er das alte Album auf. Es war ein besonderer Moment für ihn, beinahe so feierlich wie Heiligabend, wenn in der Kirche die Weihnachtsgeschichte vorgelesen wurde. Es begab sich aber zu der Zeit … da lebte eine Familie namens Zimmermann in Deutschland. Die wohnte auf dem Land bei Bad Windsheim in der Nähe von Nürnberg, und sie hatte einen großen Hof, ein Gutshaus und viele Mägde und Knechte.

       Gleich auf der ersten Seite war ein großformatiges Schwarz-Weiß-Foto eingeklebt, das die Familie und das Gesinde bei der Heuernte zeigte. Der Großvater kannte nicht alle beim Namen, aber an viele konnte er sich gut erinnern, nicht nur, wie sie hießen, sondern auch, wen sie geheiratet hatten, wie viele Kinder sie hatten und wie viele von diesen früh gestorben waren − an Masern, Diphterie oder diversen grausamen Unfällen. Ein Bruder des Großvaters war gestorben, weil er als zweijähriges Kind, wohl nur aus Langeweile, ganz viel Salz in seine Suppe geschüttet hatte. Der Urgroßvater war ein sehr strenger Mann gewesen und hatte darauf bestanden, dass der Kleine den ganzen Teller Suppe leerte, obwohl diese vollkommen versalzen war. Der arme Albrecht war daran gestorben, an Versalzung, sozusagen. In Justus‘ Vorstellung war dies der grauenvollste Tod von allen und eine schrecklich Strafe für ein so kleines Vergehen.

      „Großvater“, sagte er, „wenn ich der Albrecht gewesen wäre, ich hätte die Suppe nicht gegessen. Ich hätte einfach die Lippen zusammengepresst oder wäre davongelaufen!“

      „Hm …“, grummelte der Großvater. Er hatte eine sehr tiefe Stimme, und wenn er nachdenklich war, war sie sogar noch tiefer als sonst. „Das waren damals andere Zeiten, Justus, da mussten die Kinder gehorchen, sonst hat’s was gesetzt! Dein Urgroßvater hat uns immer mit einer Rute verdroschen, ich hab heut noch Narben davon!“

      „Aber der Albrecht war doch noch ganz klein!“

      „Na ja, trotzdem wird er schon gewusst haben, dass ihm was blüht, wenn er nicht gehorcht. Die Erziehung war früher anders, weißt du! Sehr streng. Als Kind musste man sich anständig benehmen, darauf wurde viel Wert gelegt.“

      „Heute find ich die Erziehung besser!“, sagte Justus, während er nachdenklich auf den kleinen Albrecht starrte.

       Der Großvater lachte. „So, so. Na ja, aber manche Kinder benehmen sich heute, als ob sie gar keine Erziehung bekommen hätten. Und mancher Erwachsene auch. Leider.“

       Der Arzt hatte sich verabschiedet und versprochen, später noch einmal vorbeizuschauen. Angelina war nicht mehr zurückgekommen, nachdem sie die Schale mit dem Eiter weggetragen hatte. Wahrscheinlich war sie sauer, weil sie ja eigentlich Köchin war. Papa hatte ganz kurz zur Tür hereingeschaut, war aber nicht näher gekommen. Er habe es eilig, hatte er gemeint, und werde seinen Krankenbesuch am Abend machen. Krankenbesuch – das Wort klang so förmlich, so wohlerzogen. Aber das war halt Papas Art zu reden.

       Wo Tante Cordula steckte, wusste Justus nicht. Vielleicht schlief sie noch, weil sie von der letzten Nacht müde war. Sie konnte ausschlafen − im Gegensatz zu Angelina, der man in den letzten vierundzwanzig Stunden einiges abverlangt hatte und die nun trotzdem das Mittagessen kochen musste.

       Der Großvater legte den Arm um ihn und wuschelte ihm mit der Hand durchs Haar. Seine Kleidung roch nach Pfeifentabak, ein gemütlicher Duft, der ihn entspannte, ganz ähnlich wie das Rasierwasser von Dr. Severin.

       Er schlug die nächste Seite auf. „Ah, schau mal hier!“, sagte er und zeigte auf ein Ackergerät mit zwei großen Eisenrädern, einer Art Pflug vorne und einem querstehenden Rad dahinter, das aussah wie ein Propeller mit riesigen Gabeln dran. „Das ist eine Kartoffelhexe. Mit dem Schar wurde der Kartoffeldamm angehoben und aufgebrochen, und die Gabeln haben dann die Erde mit den Kartoffeln zur Seite geschleudert. Hinter der Maschine sind die Kartoffelleser hergegangen und haben die Knollen eingesammelt. Manchmal mussten wir Kinder auch helfen beim Einsammeln. Heute macht das alles eine einzige große Maschine, die erntet mehrere Kartoffeldämme gleichzeitig ab. Sie schafft in einer Stunde genauso viel wie die ganzen Leute auf dem Bild da an einem Tag.“

       Justus lauschte gebannt den alten Geschichten seines Großvaters, Geschichten von fleißigen Knechten, dummen Tanten, Kinderstreichen und strengen Lehrern, von großen und kleinen Taten, Krankheit und Tod, Geburten und Hochzeiten. Er kannte sie nur zu gut, und doch mochte er sie immer wieder hören. Dies war seine Familie, es gab Gute und Böse, Schlaue und Dumme, Schöne und solche, die, was das Aussehen anging, weniger gesegnet waren, wie der Großvater es ausdrückte. Alle gehörten sie dazu, und er war einer von ihnen, denn Fotos von ihm waren auch in diesem Buch, aber natürlich erst auf den hinteren Seiten.

      „Hier“, sagte der Großvater, „das sind dein Urgroßvater und deine Urgroßmutter, meine Mutter.“ Er zeigte auf das Hochzeitsfoto seiner Eltern. Das Paar schaute ernst, der Urgroßvater trug ein Jackett mit Schwalbenschanz und hielt einen Zylinder in der Hand. Das Brautkleid der Urgroßmutter war schwarz. Nicht weil sich die Familie kein weißes Kleid hätte leisten können, sondern weil es damals wohl schicklich war, in Schwarz zu heiraten. Die Ehe war ein heiliges Sakrament. Justus fragte sich, ob seine Urgroßeltern bei ihrer Hochzeit nicht hatten lachen dürfen oder ob sie nur für das offizielle Foto so ernst dreingeschaut hatten. „Und hier ist deine Urgroßmutter als junge Mutter, da hat sie mich auf dem Schoß. Nach mir hat sie kurz

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