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Justus. Beatrice Lamshöft
Читать онлайн.Название Justus
Год выпуска 0
isbn 9783738079258
Автор произведения Beatrice Lamshöft
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
Er schmunzelt und faltet die Zeitung zusammen. Geld heimlich zu verschenken ist nicht nur aufregend, es ist auch ausgesprochen amüsant. Was Dr. Sein wohl hierzu sagen würde?
Der Gedanke, wie sein ehemaliger Therapeut eine bestimmte Angelegenheit beurteilen könnte, hat sich wieder einmal in sein Bewusstsein geschlichen. Sofort ist ihm schmerzlich klar, dass er ihm nie wieder etwas von sich erzählen wird. Warum nur kann er sich nicht von diesem dummen Wunsch befreien, Dr. Sein überraschen und beeindrucken zu wollen? Wenn es einen Menschen in seinem Leben gibt, der seinen Respekt nicht verdient, dann ist es Dr. Sein.
Ein Kellner findet fünfhundert Euro in einer Tasse auf seinem Tablett mit schmutzigem Geschirr, eine Gruppe osteuropäischer Straßenmusiker entdeckt gleich zwei Scheine in ihrer Sammeldose. Das war ein Versehen, ihnen war eigentlich nur einer zugedacht, aber das Geld ist neu und wenig griffig, die Scheine lassen sich nicht gut voneinander trennen. Vor dem Schwarzen Stern steht ein fassungsloser Postbote. Sein Geschenk klemmt in der Fahrradklingel seines Dienstfahrzeugs, einem dicken gelben Drahtesel, ungefähr hundert Jahre alt und eine Tonne schwer. Er hält den Schein hoch in die Luft und dreht sich lachend im Kreis, wobei seine Augen die Umgebung absuchen. Glaubt er, es handelte sich um einen schlechten Scherz? Wonach sucht er, nach einer versteckten Kamera?
Überall auf dem Römerberg werden Menschen von dem unerwarteten Geldsegen überrascht. Eine euphorische Stimmung breitet sich aus. Neugierige Blicke in alle Richtungen. Wer ist der Wohltäter? Gibt es noch mehr Scheine zu entdecken? Die Japaner reden wild durcheinander und knipsen die glücklichen Finder, die ihnen stolz ihre Geldscheine präsentieren. Wahrscheinlich diskutieren sie, ob dem Ganzen so etwas wie eine deutsche Tradition zugrunde liegt. Nach einer knappen Stunde trifft die Presse ein, beinahe zeitgleich mit der Polizei. Menschen werden interviewt. Wer hat was gesehen? Gibt es zuverlässige Informationen? Schnell macht das Gerücht die Runde, ein bekannter Aktionskünstler könnte der Gönner sein. Wie war noch gleich sein Name?
Justus lacht. Geld verschenken als Kunstprojekt! Na ja, so kann man es vielleicht auch sehen.
Ein Fünfhunderter wird zeitgleich von zwei Männern gefunden, einer vielleicht gerade mal zwanzig, der andere im Rentenalter. Ein heftiger Streit bricht vom Zaun, und nun schlagen sie mit den Fäusten aufeinander ein. Sie hatten Glück, aber sie konnten es offenbar nicht teilen. Heißt es nicht, geteiltes Glück sei doppeltes Glück? Geld allerdings verdoppelt sich nicht, wenn man es teilt. Es ging den beiden also wohl nur ums Geld und nicht ums Glück. Ihr Pech. Nun haben sie die Gesetzeshüter am Hals, die sie auseinanderzerren, ihre Personalien aufnehmen und die fünfhundert Euro erst mal beschlagnahmen.
Aufmerksam verfolgt er das Geschehen auf dem Römerberg, spaziert dabei auf dem Platz hin und her, bis er einen freien Tisch in einem Straßencafé entdeckt. Er setzt sich und bestellt einen Milchkaffee.
Dieses ganze Theater ist seine Inszenierung, ein Experiment mit zwanzigtausend Euro in vierzig Scheinen. Das Resultat fasziniert ihn. Eigentlich hatte er vermutet, nur Einzelreaktionen beobachten zu können, doch nun ist eine ganze Menschenmenge involviert. Einige Passanten machen mit ihren Handys Fotos und tippen sodann eifrig auf dem Display herum. Wahrscheinlich verbreiten sie die Neuigkeit im Internet, bei Facebook und über Twitter. Wie viele Menschen werden von dem Vorfall erfahren? Wird man davon in der Tagesschau berichten? Wird es in der FAZ stehen?
Nachdenklich rührt er einen Löffel Zucker in seinen Kaffee. In Gedanken nehmen seine Freunde und Verwandten an seinem Tisch Platz, die Lebenden wie die Toten, einer nach dem anderen. Sie reden zu ihm, bewerten seine Tat. Ist sie gut oder böse? Du bist ein Hans-guck-in-die-Luft!, würde sein Großvater sagen. So leichtfertig geht man nicht mit Geld um. Ein bisschen mehr Verantwortung, bitte!
Jaja, wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert. Er hat auch schon vorher größere Summen gespendet, zum Teil sogar deutlich mehr als zwanzigtausend Euro. Aber er hat es in aller Öffentlichkeit getan, hat sich dabei von der Presse ablichten lassen. Seine Spenden an wohltätige Organisationen waren alles andere als selbstlose Akte der Barmherzigkeit gewesen. Es gehörte schlicht zum Marketing eines bedeutenden Unternehmens dazu. Tue Gutes und rede darüber. Das war die Devise. Geld zu verschenken, ohne einen Gegenwert dafür zu erhalten, das war ein Sakrileg. Dafür konnte man womöglich entmündigt werden. Besonders, wenn man, wie er selbst schon mal, in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie gewesen war.
Sein Vater hätte seine Tat wohl ebenfalls nicht gutgeheißen, aber nichtsdestotrotz hätten die beobachtbaren Reaktionen der Menschen seinen Intellekt angeregt, und er hätte sicher darüber philosophiert, wie primitivere Völker mit einem unerwarteten Geldsegen umgehen würden. Nach allem, was er ihm von Eingeboren erzählt hat, war zu vermuten, dass sie zunächst alle Scheine eingesammelt und dann stundenlang um ein Feuer herumgesessen und beratschlagt hätten, was mit dem Geld zu tun sei, und ob es von guten oder bösen Geistern geschickt worden wäre. Sofern sie überhaupt wussten, was Geld war.
Er fragt sich, ob ihn auch irgendjemand für seine Tat bewundern würde. Fredo und Anne vielleicht. Vermutlich würde Anne so etwas sagen wie: „Wow, das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut!“ Und dann: „Justus, was willst du damit erreichen?“ Das war so etwas wie ihre Lieblingsfrage.
Nein, er kann sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand aus seinem näheren Umfeld für sein spontanes Geldverschenken begeistern würde. Es passte einfach nicht zu ihm, nicht zu seiner Erziehung, nicht zu seinem bisherigen Leben und wohl auch nicht zu seinem Charakter. Er war eine Autorität, ein moderner Unternehmer. Oder zumindest versuchte er, einer zu sein. Diese verrückte Aktion würde man ihm höchstwahrscheinlich als Symptom seiner schlechten psychischen Verfassung auslegen.
Und Marie? Was würde sie sagen? Soll er es ihr überhaupt erzählen? Es wird höchste Zeit, sie endlich anzurufen.
Der junge Bankangestellte, der ihn am Morgen bedient hat, setzt sich mit einem anderen jungen Mann, vermutlich einem Kollegen, an den Nachbartisch. Die zwei unterhalten sich angeregt und schütteln dabei immer wieder den Kopf. Kopfschütteln scheint bei jungen Bankern in Mode zu sein.
Er winkt die Kellnerin herbei, bezahlt seinen Kaffee und eilt davon. Die Vorstellung, von dem Bankangestellten wiedererkannt zu werden, ist ihm äußerst unangenehm. Nicht auszudenken, wenn dieser eins und eins zusammenzählen und das Gerücht verbreiten würde, Direktor Justus Zimmermann habe zwanzigtausend Euro auf dem Römerberg verschenkt. Er müsste es öffentlich dementieren und sich selbst verleugnen.
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