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Justus. Beatrice Lamshöft
Читать онлайн.Название Justus
Год выпуска 0
isbn 9783738079258
Автор произведения Beatrice Lamshöft
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
„Es tut mir leid, Herr Lehrer. Das ist ein Missverständnis. Es ist nur ein Zitat, und ich dachte, es wäre interessant, es zu erörtern.“
„Ein Zitat? Ach, ein Zitat! Von wem? John Lennon vermutlich!“
„Nein. Von Napoleon Bonaparte.“
Hermann öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er rang um Worte, brachte aber lediglich seine Empörung zum Ausdruck.
„Also, also, das ist doch, das ist doch …“
„Ich denke, es ist doch irgendwie bemerkenswert, dass ein Mann wie Napoleon so etwas sagt, und vielleicht könnten Sie uns etwas zu seiner Person erzählen, damit wir uns ein besseres Bild von ihm machen können.“
Seine Klassenkameraden hielten den Atem an. Wie wollte Hermann darauf antworten? Es musste ein Wunder geschehen, um ihn aus dieser Situation unbeschädigt herauskommen zu lassen.
Kein Wunder geschah, aber es klingelte zum Ende der Stunde. Die Erlösung! Hermann knallte den Zeigestock auf sein Pult, schmiss sein kleines schwarzes Notizbüchlein in die offen stehende Tasche und floh aus dem Klassenraum.
Voilà, dachte Justus, und nahm verwundert zur Kenntnis, wie schnell die letzte halbe Stunde vergangen war. Seine Mitschüler lachten, einige warfen ihm bewundernde Blicke zu. Andere schüttelten nur den Kopf. Er hatte nicht nur Fredo gerettet und einen unangekündigten Test abgewendet, sondern auch bewirkt, dass im Fach Geschichte zum ersten Mal seit ungefähr hundert Jahren keine Hausaufgaben aufgegeben worden waren. Sicher, es würde irgendwelche Konsequenzen nach sich ziehen. Aber was hatte er schon Schlimmes getan? Er hatte seinen Lehrer auf einen losen Knopf aufmerksam gemacht und einen Satz von Napoleon zitiert, den sein Vater am Morgen beim Frühstück erwähnt hatte. Das war doch kein schwerwiegendes Vergehen? Er war intelligent. Souverän. Überlegen. Zufrieden packte er seine Sachen ein.
Beim Rausgehen fiel sein Blick auf den kleinen weißen Hemdknopf, der auf dem Boden lag. Sollte er ihn aufheben?
Nein, er wollte sich nicht bücken.
2. Mai 2012
Er wacht auf. Ist es schon Zeit aufzustehen? Unwillig dreht er sich im Bett auf die andere Seite. Er möchte noch nicht wach sein. Und er möchte noch ganz lange nicht aufstehen müssen. Bilder der Mainacht streifen sein Bewusstsein − das Dach, Marie, das Feuer, die bunten Lichter des Jahrmarktes, der Weihnachtsmann mit dem Akkordeon, der Sensenmann mit den Rosen, der Clown mit seinen vielen Ballons und der Kamera.
Niemand hatte an seinem Geburtstag angerufen, auch Marie nicht. Glückwünsche waren nur via E-Mail gekommen, eine überschaubare Menge, fast ausschließlich von Geschäftsfreunden. Fredo und Anne hatten eine Karte geschickt, mit herzlichen Glückwünschen und vielen Grüßen. Eine Standardfloskel, nichts Persönliches. Wenn sie auch sonst nicht mehr miteinander in Kontakt standen, seinen Geburtstag vergaßen sie nie, warum auch immer. Darüber, dass Susanne sich nicht gemeldet hatte, war er sehr froh. Es wäre demütigend, ja geradezu zynisch gewesen, hätte sie ihm Glück gewünscht. So war er also den ganzen Tag allein gewesen, aber er hatte sich trotzdem nicht schlecht gefühlt. Nein, ganz im Gegenteil, gemessen an den Monaten zuvor war es ihm sogar ausgesprochen gut gegangen. Er hatte sich in Tagträumen verloren, Pläne für ein verlängertes Wochenende gemacht, wobei er fest davon ausgegangen war, dass Marie ihn begleiten würde. Er hatte bewusst jede Form von negativem Denken vermieden.
Marie. Er zieht die Bettdecke über seine nackte Schulter und lächelt zufrieden. Dann blinzelt er mit einem Auge und sieht ein großes Lebkuchenherz, das am Schlüssel des Fenstergriffes hängt. Es ist sein Herz, sie hat es ihm geschenkt. In seinem Bauch kribbelt es. Man kann nicht schlafen, wenn es so wunderbar kribbelt. Aber das macht nichts, ein Kribbeln zu spüren ist schöner, als zu schlafen. Soll er nun vielleicht doch aufstehen? Ein neuer Tag wartet auf ihn, aber es droht, ein langweiliger Bürotag zu werden. Nein, er will noch nicht aufstehen, er will noch ein bisschen liegenbleiben und an Marie denken.
Der 1. Mai war wie im Flug vergangen. Er hatte sich leicht und befreit gefühlt, und schon beim Duschen erheitert festgestellt, dass die Erdanziehungskraft eindeutig abnahm, wenn man verliebt war. Am Nachmittag war er zwei Stunden lang spazieren gegangen – längs der Felder und Wiesen, die sich unweit der alten Seifenfabrik, in der sich sein Penthouse befand, bis zum nächsten kleinen Städtchen in einigen Kilometern Entfernung erstreckten. Die Welt hatte über Nacht einen neuen Anstrich erhalten, sie war nicht mehr grau in grau, nein, sie war frisch renoviert und leuchtete endlich wieder in lebendigen Farben. Wie schön alles war. Wenn man es nur wahrnahm. Wenn man es wahrnehmen konnte. Er konnte es wieder. Endlich.
Das Telefon klingelt. Es dudelt Nachts sind alle Katzen grau. Er zählt mit. Zehn Mal, dann gibt der Anrufer auf. Auch ohne auf das Display zu schauen ahnt er, dass es seine Sekretärin war. Er hat verschlafen, wahrscheinlich. Vielleicht sollte er auf die Uhr schauen, um zu sehen, wie spät es ist. Besser nicht.
Der Terminplan drängelt sich in sein Bewusstsein. Am Vormittag hat er ein Meeting mit der Marketingabteilung. Besprechung der neu entwickelten Produktlinie. Wie heißt sie noch gleich? Kreatives Lernen mit Billbob oder Bobillo. Ein Bärenname halt. Material für den Kindergartenbedarf, drei unterschiedliche Lernniveaus. Herr Bayer, der im Januar auf dem Weg zur Arbeit beinahe tödlich verunglückt wäre, wird das Marketingkonzept vorstellen. Sitzend, im Rollstuhl, denn er ist jetzt querschnittgelähmt. Er hat die Reha vorzeitig beendet, um so schnell wie möglich an seinen Arbeitsplatz zurückkehren zu können.
Im November des vergangenen Jahres hatte Justus ihn entlassen wollen, sich dann aber aus einer spontanen Laune heraus dazu entschlossen, die Probezeit zu verlängern. Galt die Probezeit noch, oder war Herr Bayer nun durch seine Behinderung unkündbar geworden? Er weiß es nicht. Jemand in der Personalabteilung wird es wissen. Vor dem Meeting gibt es wahrscheinlich noch einen Stapel Briefe zu unterschreiben. Die Anfragen des Betriebsrates muss er heute endlich beantworten, er hat das schon zwei Wochen vor sich hergeschoben. Und, ach ja, das Layout des neuen Kundenkatalogs soll er auch noch absegnen.
Der Kundenkatalog. Im Grunde genommen war es immer seine Sekretärin, die das Layout begutachtete und ihm Verbesserungsvorschläge diktierte. Sie liebte es, in Katalogen zu blättern. Alle Frauen liebten Kataloge. Kataloge wurden im Zeitalter des Internets nur noch für Frauen gedruckt. Ob Marie wohl gerne in Katalogen blätterte?
Marie. Da ist es wieder, dieses wunderbare Kribbeln im Bauch. Was sie wohl sagen wird, wenn sie herausfindet, wer er ist? Wird sie beeindruckt sein von seinem Unternehmen, von seiner gesellschaftlichen Stellung? Der Gedanke, ihr zu imponieren, gefällt ihm. Vielleicht hat sie finanzielle Sorgen. Dann kann er ihr leicht helfen. Wie ein Märchenprinz. Er wird sie verwöhnen, sie zum Essen ausführen und ins Theater, ihr schöne Kleider kaufen. Und einen Lockenstab, damit sie sich Locken drehen kann.
Das Telefon klingelt erneut. Er dreht sich auf den Bauch und vergräbt seinen Kopf in den Kissen, bis ihm die Luft ausgeht. Diesmal klingelt es länger, ungeduldiger. Da ist jemand verärgert. Oder besorgt. Vielleicht beides. Er streckt seine Hand aus und greift nach dem Hörer. Die Stimme seiner Sekretärin schallt in sein Ohr, ein wenig schrill. Sie mag es nicht, wenn der Tagesplan schon morgens durcheinandergerät.
Er unterbricht sie, sagt, es täte ihm leid, aber er sei krank, sie solle alle Termine absagen. Herr Hagemann, sein Geschäftsführer, könne den Katalog absegnen. Stille. Dann der Wunsch nach guter Besserung und die Frage, wann er denn wohl wieder ins Büro komme.
„Ich weiß es noch nicht, ich werde Sie später nochmal anrufen.“
Oh, das mag sie überhaupt nicht hören, so kann sie nicht planen. Aber er ist nun mal der Chef, also muss sie es hinnehmen.
Er ist nicht krank. Er macht nur blau. Obschon, manche Leute behaupteten ja,