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nichts dabei, verliebt zu sein, und er wird jetzt nicht anfangen, es infrage zu stellen. Alles kritisch zu hinterfragen ist eine Krankheit. So ist es. Am besten er steht auf, bevor er ins Grübeln verfällt.

      Er schlüpft in seinen Morgenmantel und betritt das Wohnzimmer. Es ist groß, eine alte Produktionshalle mit hohen Decken. Er streift mit den Händen über die rustikalen Backsteinmauern, blickt aus den riesigen Fenstern, die aus Hunderten kleiner Glasflächen zusammengesetzt sind. Da wo nun seine Möbel stehen, wurde jahrzehntelang Seife produziert. Danach war das Gebäude lange verwaist und drohte zu zerfallen, bevor ein innovativer Architekt dessen besondere Ästhetik entdeckte und fünf extravagante Lofts entwarf. Er liebt die offene Architektur, die Helligkeit und das moderne Ambiente. Der absolute Kontrast zu dem alten Gutshof, in dem er aufgewachsen ist, wo alles dunkel ist, die Zimmer mit den holzgetäfelten Decken, die antiken Stilmöbel, die ausladenden Brokatvorhänge an den Fenstern im Erdgeschoss. Auf dem Gutshof ist die Vergangenheit gegenwärtig und alles beherrschend wie ein schweres, betäubendes Parfum. In seinem Loft hingegen existiert Geschichte nur noch als nostalgische Idee.

      An manchen Tagen glaubt er den Geruch von Kernseife wahrzunehmen. Dann stellt er sich riesige kupferfarbene Bottiche vor, gefüllt mit einem brodelnden, schleimigen Sud, und Arbeiterinnen, deren Gesichter vom heißen Wasserdampf rot glänzen. Ein archaisches Bild und wahrscheinlich von der Realität der Seifenherstellung weit entfernt. Aber es gefällt ihm, und er hat es vor seinem geistigen Auge abgespeichert wie einen alten Rembrandt.

      Der ehemals graue Steinboden ist nun mit honigfarbenen Holzplanken belegt, die eine behagliche Wärme ausstrahlen. Die schlichten Sitzmöbel und wenigen Teppiche sind in Erdtönen gehalten. Große Einbauschränke bieten reichlich Stauraum, sodass auf weiteres Mobiliar verzichtet werden konnte. Zwei weiß getünchte Wände bilden den perfekten Platz für drei großformatige Bilder von Franz Baumgartner, einem Landschaftsmaler vom Niederrhein. Er schätzt die Ruhe, die sie ausstrahlen, die gedeckten Farben und unspektakulären Sujets. Wie lange ist es her, dass er seine Wohnung so bewusst wahrgenommen hat? Ob sie Marie gefallen wird?

      Er geht hinüber zur offenen Küche, die in den Wohnbereich integriert ist, und macht sich einen Latte macchiato. Was soll er nun tun? Marie anrufen! Ja, natürlich. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht ihn. Wieder ein Kribbeln, aber diesmal kann er es nicht genießen. Er ist aufgeregt. Ängstlich. Warum? Wovor sollte er denn Angst haben? Auf dem Tisch neben der Couch liegen sein Schlüssel und das Foto mit ihrer Telefonnummer. Er sollte sie anrufen. Am besten sofort. Vielleicht wartete sie auf seinen Anruf. Vielleicht fühlt sie sich genauso ängstlich wie er selbst. Wer verliebt ist, muss Mut beweisen. Das war schon immer so, aber er hatte es wohl schon vergessen.

      18. Mai 1990

       Die tanzenden Flammen, denen er nun schon eine ganze Weile zugesehen hatte, ohne ein Wort zu sagen, weil er wusste, wie sehr sein Vater es liebte, bei einem guten Glas Rotwein vor dem Kamin zu sitzen und still den Klängen klassischer Musik zu lauschen, diese Flammen machten ihn schläfrig, flackerten vor seinen Augen wie eine Schar kleiner Geister, die einen magischen Tanz aufführten, um ihm sein Bewusstsein zu stehlen. Sie folgten keinem festgelegtem Muster, sondern sprangen im Kamin wild umher, begleitet vom Knistern und Knacken des brennenden Holzes. Ganz anders war die Musik, der sie lauschten − Bach oder Brahms, Mozart oder Beethoven, irgendeiner der alten Meister halt, von denen sein Vater sagte, ihre Kompositionen hätten noch so etwas wie eine geordnete Dramaturgie, eine Syntax, die man verstehen könne, die einen nicht fortwährend mit experimentellen Klangmustern herausfordere.

       Alles lief gut, auch die Quartalsnoten ließen sich sehen. Mathe sehr gut wie immer, Deutsch gut, Englisch gut, in den Naturwissenschaften war er auch gut, könnte sich aber noch etwas verbessern, in den Gesellschaftswissenschaften ebenso, wollte er jedoch nicht, denn es schien ihm den Aufwand nicht wert zu sein.

       Er gähnte und rekelte sich zufrieden, streckte seine Beine aus und strich mit seinem Daumen im Rhythmus zur Musik über das dunkelbraune Leder des alten Ohrensessels. Früher, als er noch ganz klein gewesen war, hatte seine Mutter immer auf diesem Platz gesessen, aber daran konnte er sich kaum erinnern. Vermutlich hatte irgendjemand es ihm mal erzählt. Rechts neben ihm, in dem anderen Ohrensessel, saß sein Vater. Er hatte seine Arme über dem Bauch verschränkt und die Füße auf einem Hocker vor sich abgelegt. Auch er starrte in die Flammen und schien tief in seine Gedanken versunken zu sein, oder aber er konzentrierte sich auf die Musik. Auf einem kleinen Beistelltisch zwischen ihnen atmete sein Rotwein in einem großen bauchigen Weinglas, das so bemerkenswert dünn war, dass man meinen konnte, es würde sofort zerbrechen, wenn man nur versehentlich mit der Hand daran stieß.

       Vom Wein zu kosten hatte sein Vater ihm stets untersagt, weil er angeblich noch zu jung dafür war. Es war sehr schwer, etwas bei ihm durchsetzen, das ihm bisher aufgrund seines Alters verwehrt worden war, denn es bestand immer die Gefahr, dass sein Anliegen gar nicht erst überdacht, sondern sofort abgelehnt wurde, weil sein Vater gewohnheitsgemäß jede Form von Veränderung erst einmal zurückwies.

       Alle persönlichen Freiheiten hatte Justus sich Stück für Stück erkämpfen müssen, indem er die Aufmerksamkeit seines Vaters erregte – durch besondere Leistungen, kluge Kommentare, gute Noten in der Schule oder schlicht beharrliches Nachfragen, damit Joachim Zimmermann sich die Zeit nahm, die er brauchte, um zu erkennen, dass sein Sohn nun laufen konnte, keine Windeln mehr trug, auf der Straße nicht mehr an die Hand genommen werden musste, Freunde allein mit dem Fahrrad besuchen konnte, Hausaufgaben selbstständig erledigte, und er nicht mehr um Punkt acht ins Bett gehen musste. Neuerdings durfte er am Wochenende auch mal einen späten Film ansehen, selbst wenn dieser Gewalt- und Sexszenen enthielt.

       Der studierte Anthropologe, der sich für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit begeistern konnte, die Werte traditioneller Gesellschaften wie die der Inuit in Grönland oder die der Aborigines in Australien gern mit denen moderner Kulturen verglich, in denen familiäre Strukturen mehr und mehr in Auflösung begriffen waren, dieser gelehrte Mann zeigte generell wenig Interesse an den Fragen des alltäglichen Lebens, wie der, ob für den Winter eine neue Schneefräse angeschafft werden sollte, ob die Vorhänge im Esszimmer in die Reinigung gebracht werden mussten oder welcher Elektriker die defekte Gartenbeleuchtung instand setzen sollte, jetzt, da der alte seinen Betrieb dichtgemacht hatte. Vaterschaft war nur eine der vielen Pflichten, denen er eher notgedrungen nachkam, mit einem gewissen Grad an Sorgfalt immerhin, so wie er im Grunde genommen alles recht zuverlässig erledigte, was an ihn herangetragen wurde. Begeisterung dafür durfte man von ihm allerdings nicht erwarten.

       Justus betrachtete seinen Vater aus halb geöffneten Augen, sah auf die großen knochigen Hände, die langen Finger, die vornehm aussahen, besonders dann, wenn er seine Fingerspitzen aneinanderlegte, während er über irgendeinen Sachverhalt nachdachte, um zu einer wohlüberlegten Aussage oder Entscheidung zu kommen. Es passierte nicht allzu häufig. Viel eher konnte man seine Hände dabei beobachten, wie sie mit einer lässigen Bewegung etwas wegzuwischen schienen, so als würden sie eine lästige Fliege verscheuchen. Das war die Geste, die er ausführte, wenn man ihn mit allzu belanglosen Fragen belästigte. Machen Sie es so oder so, ach, ist doch egal, machen Sie es halt irgendwie, und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, schienen seine Hände dann zu sagen.

       Er wusste, sein Vater war seiner Mutter zuliebe in das Unternehmen eingetreten. In einem Familienbetrieb da müsse jeder seinen Beitrag leisten, so hatte es der Großvater immer verlangt. Immerhin konnten sie sich durch das viele Geld, das sie verdienten, ein luxuriöses Leben leisten. Als er klein gewesen war, hatte er geglaubt, sein Vater und seine Mutter hätten geheiratet, weil sie beide mit Nachnamen Zimmermann hießen. Aber dann hatte er irgendwann begriffen, dass dies nur ein seltener Zufall war, der eigentlich nichts bedeutete. Inge, die alte Köchin, die zwar schon lange in Rente war, aber immer noch dann und wann mal vorbeischaute, um zu sehen, wie’s der Familie so ging, Inge hatte ihm vor Kurzem erzählt, sein Vater habe sich ins gemachte Nest gesetzt, habe in die Familie eingeheiratet, weil er mit seinem Studium nichts geworden wäre. Mit so was Exotischem, das dein Papa studiert hat, da wirst du mit viel Glück Professor an der Uni, aber wohl viel eher Sozialhilfeempfänger,

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