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er reden wie ein Professor. Doch eines wusste er ganz sicher: dass er seine Mutter sehr geliebt und sie nur deshalb geheiratet hatte. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt, als in die Firma einzusteigen, sonst hätte der Großvater ihn nie akzeptiert. Das Wort des Großvaters war Gesetz. Man konnte versuchen, sich dagegen aufzulehnen, aber am Ende würde man doch verlieren.

       Der alte Mann war halt eine echte Autorität.

       Sein Blick löste sich von den Händen seines Vaters und wanderte aufwärts. Er war ein großer Mann, deutlich größer als seine Mutter gewesen war. Er hatte sie um gut einen Kopf überragt. Auch auf den Großvater konnte er locker hinuntersehen, wenn die beiden nebeneinanderstanden, und Justus ahnte, dass er selbst die Größe seines Vaters wohl nie erreichen würde. Er betrachtete sein Gesicht, das schmal war und von einer etwas zu großen und leicht gebogenen Nase dominiert wurde. Die Augen waren grünbraun so wie seine eigenen. Ja, die Augen hatte er eindeutig von seinem Vater geerbt. Gott sei Dank nicht die Nase. Und auch nicht seinen schlechten Kleidungsgeschmack. Sein Vater liebte braune Cordhosen und Pullover in erdigen Farbtönen. Manchmal trug er Strickpullunder über karierten Hemden, glücklicherweise aber nur zu Hause und nie in der Öffentlichkeit. In die Firma ging er stets in Anzug mit Hemd und Krawatte, der Bürouniform, wie er das nannte.

       Vollkommen unvermittelt drehte sich sein Vater plötzlich zu ihm herüber und schaute ihm in die Augen, wodurch er prompt aus seinem leichten Dämmerschlaf erwachte und sich gerade hinsetzte. Gab es etwas zu bereden?

      „Ich habe mit dem Direktor deiner Schule gesprochen. Er hat mich angerufen und sich über dich beschwert, gewissermaßen, auch wenn ich zugeben muss, dass ich den genauen Sachverhalt seiner Ausführungen nicht wirklich verstanden habe. Er war, wie soll ich sagen, etwas ungehalten über deine generelle Einstellung den Lehrern gegenüber. Er behauptete, es fehle dir an Respekt.“

       Er zog die Augenbrauen hoch, in der Hoffnung sein Vater würde ihm den erstaunten Gesichtsausdruck, den er zu zeigen versuchte, abkaufen.

      „Ich soll respektlos sein? Wieso denn?“

      „Es ging um deinen Geschichtslehrer!“

       Um wen sonst, dachte er. „Was hat er denn gesagt, der Geschichtslehrer?“

      „Ich weiß nicht, was genau er gesagt hat“, antwortete sein Vater. „Eigentlich möchte ich von dir wissen, was nun schon wieder vorgefallen ist. Diese wiederholten Beschwerden werden langsam etwas lästig, Justus!“

       Sein Vater schaute mit einem Mal sichtlich genervt. Damit hatte er nicht gerechnet. Nun musste er gut aufpassen, was er sagte. Schon auf dem Nachhauseweg hatte er genau überlegt, wie er die Napoleon-Geschichte am besten verkaufen konnte, und er versuchte, sich zu erinnern.

      „Es war wegen Fredo!“, sagte er.

      „Wegen Fredo? Das musst du mir erklären!“

       Sein Vater nahm die Füße vom Hocker, schlug die Beine übereinander und schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sein Blick war wie eine glühende Zange in seinem Nacken, die sich langsam und unaufhaltsam schloss.

      „Hermann wollte Fredo fertigmachen. Wieder mal. Ich konnte das nicht aushalten. Es ist so gemein, wie er ihn immer demütigt. Hermann ist ein …“

       Ein Arsch. Er verkniff sich das Wort, wohl wissend, dass sein Vater solche Ausdrücke nicht duldete, auch wenn sie absolut berechtigt waren.

      „Es ehrt dich Justus, dass du dich so für einen Freund einsetzt. Aber Fredo muss lernen, für sich selbst zu sorgen. Auf lange Sicht hilfst du ihm wenig, indem du ihn verteidigst, du machst ihn eher noch schwächer. Mal ganz abgesehen davon, dass du dir selbst schadest mit deinen Auftritten.“ Er wollte gerade ansetzen, etwas zu erwidern, doch sein Vater winkte ab und wendete sich wieder dem Feuer zu. „Benimm dich, Justus. Das ist alles, was ich von dir erwarte. Es bringt nichts, sich gegen Menschen aufzulehnen, die am längeren Hebel sitzen. Das musst du noch lernen!“

       Sein Vater war verärgert, wohl nicht so sehr darüber, was er getan oder nicht getan hatte, sondern über den Umstand, dass man ihn mit dieser Angelegenheit belästigt hatte.

       Justus schaute ins Feuer und ballte seine Hand zur Faust. Es war so ungerecht, wie ein kleiner dummer Rotzlöffel hingestellt zu werden. Wenn sein Vater nur wüsste, wie die ganze Sache abgelaufen war, er wäre stolz auf seinen Sohn, weil er überlegen und souverän wie ein Erwachsener reagiert hatte. Sein Vater musste es unbedingt erfahren.

      „Du warst nicht dabei, Papa. Du weißt doch gar nicht, wie es abgelaufen ist. Aber … die genauen Fakten scheinen dich ja nicht zu interessieren.“

       O ja, die Fakten … Nichts war seinem Vater so verhasst wie Menschen, die auf der Basis von bloßen Vermutungen zu argumentieren versuchten. Wer die Fakten nicht kannte, der konnte nicht mitreden. Und wer die Fakten nicht dargestellt bekommen wollte, der hatte auch kein Recht, über seinen Sohn zu urteilen.

       Sein Vater zog erneut die Augenbrauen hoch und lächelte. „Die Fakten … Aha. Was sind denn die Fakten? Na ja … Wenn du der Meinung bist, dass es noch etwas gibt, das ich wissen sollte, dann will ich dir gerne zuhören.“

       Na also, dachte Justus. Und dann begann er, die Geschichtsstunde zu schildern, so wie er es sich zu zurechtgelegt hatte. Er schilderte ausführlich, wie unmöglich Hermann sich verhalten hatte, wie er es liebte, Schüler zu drangsalieren, insbesondere Fredo, und wie gekonnt er selbst ihn bloßgestellt hatte, ohne Worte, allein durch seine coole Art und das Napoleon-Zitat, das er ihm doch am Morgen beim Frühstück genannt hatte.

       Während der ganzen Schilderung saß sein Vater unbeweglich in seinem Sessel, blickte ins Feuer, die Ellbogen auf den Armlehnen abgestützt und die Fingerspitzen aneinandergelegt. Es dauerte einen Moment, bis er reagierte, nachdem er mit allen Details in die Fakten der Auseinandersetzung eingeweiht worden war. Er schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Dann holte er tief Luft und verkündete sein Urteil, wobei er sich Justus zuwendete, ihm aber nicht direkt in die Augen sah.

      „Ich bin entsetzt Justus! Für wen hältst du dich eigentlich? Benimmst dich wie ein … wie ein arroganter aufgeblasener Wichtigtuer. Deinen Lehrer vor der ganzen Klasse so vorzuführen! Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist? Was ist nur in dich gefahren? Du warst doch sonst immer so vernünftig! Bist du auf einmal verrückt geworden? Bei dir schießen wohl die Hormone ein! Aber noch hast du keinen Bart, mein Freund!“ Dann schaute er ihm direkt in die Augen. „Justus, ich schäme mich für dich!“

       Das Telefon klingelte. Zweimal, dreimal. Niemand ging ran. Joachim Zimmermann stöhnte, erhob sich und ging ins Esszimmer, um das Gespräch anzunehmen.

      „Ja, bitte. Ja, aber das weiß ich nicht auswendig, da muss ich nachschauen. Ich rufe Sie gleich zurück“, sagte er, legte auf und verließ den Raum, vermutlich, um sein Arbeitszimmer aufzusuchen.

      Justus starrte in die Flammen, sah die kleinen Geister, die immer noch für ihn tanzten, aber jetzt schienen sie ihn zu verspotten. Ich schäme mich für dich, ich schäme mich für dich, riefen sie.

       Hätte er doch nur seinen Mund gehalten. Und trotzdem, er war kein kleiner Junge mehr. Sein Vater wollte es einfach nicht begreifen. Er hatte ihn zu Unrecht beschimpft. Oder nicht?

       Der Rotwein auf dem kleinen Tisch an seiner Seite hatte nun schon eine halbe Stunde geatmet. Man konnte ihn jetzt genießen, wenn man alt genug war. Vorsichtig nahm er das große Glas in seine Hand und führte es langsam zum Mund.

      Pass bloß auf, dass du es nicht zerbrichst, riefen die kleinen Geister. Pass bloß auf, du bist so schrecklich ungeschickt.

       O Gott, nicht auszudenken, was sein Vater sagen würde. Justus‘ Hand begann zu zittern, und plötzlich wusste er ganz sicher, dass er es nicht schaffen würde, aus dem Glas zu trinken,

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