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gestorben war. Ihm lief ein Schauer über den Rücken.

       Der Großvater fuhr mit der Familienchronik fort. Zwillinge wurden geboren, Großonkel Heinrich und Großonkel Friedrich. Sie waren mit gerade mal siebzehn Jahren am Ende des Krieges gefallen. Das war für die Urgroßmutter sehr schlimm gewesen, weil sie so an ihren Söhnen gehangen hatte. Sie war sechs Mal schwanger gewesen, und von all ihren Kindern war nur der Großvater übriggeblieben, der das Glück gehabt hatte, im Krieg nur eine Kugel in den Allerwertesten zu bekommen − eine unangenehme Stelle, aber immerhin besser als einen Arm oder ein Bein zu verlieren oder gar das ganze Leben.

       Im Lazarett war er von der Großmutter, die im Krieg Krankenschwester gewesen war, obwohl sie eigentlich Sekretärin hatte werden wollen, gepflegt worden. Justus betrachtete ein Foto, auf dem sie in ihrer Schwesterntracht mit Schürze und Häubchen vor einem Lazarettzelt stand und ein wenig verschämt in die Kamera lächelte. Sie hatte fein geschnittene Gesichtszüge, und er erkannte die Ähnlichkeit zu seiner Mutter. Tante Cordula ähnelt mehr dem Großvater, aber sie lächelt genauso wie die Großmutter, dachte er. Das war ihm zuvor noch nie aufgefallen.

       Dann schließlich kamen die Fotos, die er am meisten liebte, denn sie zeigten die allerersten Anfänge der Spielzeugmanufaktur Zimmermann. Seine Urgroßmutter war eine recht begabte Schneiderin gewesen, doch auf dem Bauernhof war immer so viel zu tun gewesen, dass sie nur im Winter mal dazu gekommen war, etwas zu nähen. Wenn sie sich ein Kleid geschneidert hatte und noch etwas Stoff übrig gewesen war, dann hatte sie daraus kleine Püppchen mit aufgestickten lieben Gesichtchen angefertigt. Zunächst hatte sie alle verschenkt, an ihre Nichten und an Kinder armer Leute aus dem Dorf. Irgendwann hatte sie erste Aufträge bekommen, von fremden Leuten, deren kleine Kinder Gefallen an ihren hübschen weichen Püppchen fanden, und die nicht so viel Geld besaßen, dass sie sich eine Käthe-Kruse-Puppe hätten leisten können.

       Justus verstand, dass es in der Vergangenheit drei Zeiten gegeben hatte: die vor, die während und die nach dem furchtbaren Krieg. Vor dem Krieg war die Welt noch in Ordnung gewesen, während des Krieges hatten alle furchtbare Angst und Hunger gehabt, und nach dem Krieg war alles zerstört gewesen. Aber nach dem Krieg war auch die Zeit des Neuanfangs, und wer fleißig gewesen war und ein bisschen pfiffig im Kopf, wie der Großvater sagte, der hatte damals was auf die Beine stellen können.

       Der Familie Zimmermann mit ihrem Bauernhof war es nach dem Krieg erst mal ziemlich schlecht gegangen, weil so viele Männer gefallen waren und kaum noch jemand dagewesen war, um die schwere Arbeit auf den Feldern zu tun. Auch hatte sich der Urgroßvater, wohl aus Verbitterung über den verlorenen Krieg und seine gefallenen Söhne, zu einem ganz schlimmen Despoten entwickelt, dem man nichts recht machen konnte und der immer nur herumschrie. Niemand hatte für ihn arbeiten wollen, weil er so jähzornig gewesen war.

       Aber eines Tages, im Sommer 1948, gerade als er Luft geholt hatte, um wieder einmal loszubrüllen, konnte er plötzlich nicht mehr reden. Ihn hatte der Schlag getroffen, und fortan hatte er nur noch „sel“ gesagt. Wenn man ihn fragte, wie es ihm ging, sagte er „sel“. Und wenn man ihn fragte, ob er noch etwas Suppe wolle, sagte er auch „sel“. Manchmal sagte er es auch zweimal hintereinander − „sel, sel.“ Und wenn er wütend war, dann wiederholte er es immer und immer wieder und guckte ganz grimmig dabei. Bis zu seinem Tod fünf Jahre später hatte er kein einziges anderes Wort mehr gesprochen.

       Von dem Tag an, an dem es dem Urgroßvater die Sprache verschlagen hatte, war es wieder bergauf mit der Familie gegangen. Der Großvater hatte das Sagen auf dem Hof übernommen und die Großmutter geheiratet, die eine ordentliche Mitgift bekam, weil sie aus einer wohlhabenden Familie stammte. Anfangs war diese nicht besonders glücklich darüber gewesen, dass eine ihrer drei Töchter einen einfachen Bauernsohn zum Mann gewählt hatte. Später war es dann nicht mehr so schlimm gewesen − als der Großvater die Fabrik hatte und sie reiche Leute geworden waren. Die Mitgift der Großmutter hatte es ermöglicht, neues Gesinde einzustellen, und die Urgroßmutter durfte fortan so viele Püppchen nähen, wie es ihr Spaß machte, denn sie brauchte nicht mehr auf dem Feld mitzuarbeiten.

       Justus holte tief Luft. Immer wenn der Großvater an die Stelle kam, wo der Urgroßvater nichts mehr zu sagen hatte, weil er nicht mehr reden konnte, und die Urgroßmutter anfing, ganz viele Püppchen zu nähen, wusste er, jetzt begann die Geschichte der Spielzeugfirma, das Wunder der Familie Zimmermann. Er nahm einen großen Schluck Wasser.

      „Es tut gar nicht mehr weh, Großvater!“, sagte er.

      „Ja, siehst du, es lohnt sich immer, tapfer zu sein!“

       Der Großvater wuschelte ihm mit der rechten Hand durch die Haare, dann blätterte er weiter und sie betrachteten die Fotos auf den folgenden Seiten. Justus sah seine Urgroßmutter vor einem Haufen kleiner Stoffpüppchen, die sie aus verschieden gemusterten Stoffen genäht hatte. Sie strahlte über das ganze Gesicht, man konnte deutlich ihre schiefen Zähne sehen. Wie alt mochte sie dagewesen sein? Er fragte den Großvater.

      „Das war 1949, als die Bundesrepublik gegründet wurde. Da war sie, na, so ungefähr Mitte fünfzig.“

       Mitte fünfzig erst! Er zog die Augenbrauen hoch. Er hätte sie viel älter geschätzt. Nun ja, vielleicht lag das an der altmodischen Kleidung, die sie trug, und an der strengen Frisur. Links neben ihr, zurückgelehnt und nicht gut zu erkennen, saß der Urgroßvater. Er lachte nicht, er hatte ein ganz ernstes Gesicht, so wie auf dem Hochzeitsfoto. Auf der rechten Seite stand Urgroßonkel Alois, der Mann von Urgroßmutters Schwester Margarete. Er war Werkzeugmacher und ein lustiger Geselle gewesen, hatte der Großvater erzählt. Eigentlich war es Onkel Alois gewesen, der als Erster das produzierte, womit sie später die Firma gründeten. Weil ihm die Püppchen von der Johanna, so hieß die Urgroßmutter, weil ihm die Püppchen so gefielen und weil er sowieso Kinder furchtbar gern hatte und immer mit ihnen spielte, wenn er Zeit hatte, fing er an, kleine Spielzeugautos und Blechtröten zu bauen. Die Püppchen, Autos und Tröten verkauften sie zunächst so nebenbei auf dem Wochenmarkt, zusammen mit Kartoffeln, Kohlköpfen, Sellerie und Möhren. Aber dann, an einem Samstag im August 1950, kam ein junger Mann, der hieß Holderbusch oder so ähnlich, und er fragte, ob Onkel Alois die Blechteile, die den Ton in der Tröte machten, ob er die nicht in größerer Stückzahl produzieren wolle, weil er für eine kleine Spielzeugfirma arbeite, die so was gut gebrauchen könne.

       Zunächst waren es fünfzig gewesen, dann kam eine neue Anfrage für hundert Stück, dann hundertfünfzig. Es waren immer neue und größere Aufträge gekommen, und schließlich waren es so viele gewesen, dass Onkel Alois nichts anderes mehr gemacht hatte, als diese sogenannten Blechstimmen herzustellen. Nun habe er als Werkzeugmacher viel Geschick bewiesen, sagte der Großvater, und auch an Fleiß habe es ihm nicht gemangelt, aber pfiffig sei er nicht gewesen, und mit geschäftlichen Dingen habe er sich nicht ausgekannt. Deshalb sei es ihm ganz lieb gewesen, alle vertraglichen Verhandlungen dem Großvater zu überlassen. Der war ein schlauer Fuchs und hatte gute Konditionen ausgehandelt. Außerdem war er mutig genug gewesen, einen weiteren Werkzeugmacher einzustellen, um die Produktion steigern zu können. Elmar Becker hatte der erste Angestellte geheißen. Justus erkannte ihn sofort auf einem der Fotos wieder, ein junger Mann mit einem breiten Gesicht und weit auseinanderstehenden Augen.

      „Irgendwann“, so fuhr der Großvater fort, während er langsam in den Seiten des Albums weiterblätterte, „irgendwann ist mir klar geworden, dass wir nicht nur für eine Firma arbeiten durften, weil wir dann immer von deren Gutdünken abhängig gewesen wären. Also habe ich im Dezember 1953 die Firma Zimmermann Spielzeug gegründet, deren Geschäftsführer ich wurde.“ Er hatte neue Aufträge von anderen Firmen beschafft und Spritzgussmaschinen erworben, mit denen man kleine Plastikteile herstellen konnte.

       Justus betrachtete aufmerksam die Fotos der monströsen Maschinen. Sie waren der ganze Stolz der neu gegründeten Firma gewesen, gusseiserne Monster, die so altertümlich wirkten, dass es ihm schwerfiel, sich vorzustellen, dass man damit so etwas Modernes wie Plastik verarbeiten konnte.

       Der Großvater hatte sich um Aufträge und Verhandlungen

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