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fängt sich im letzten Moment. Sein Herz hämmert, stolpert drei vier Schläge aus dem Takt, dann schlägt es schnell, so schnell, dass es wehtut. Er atmet ein und aus, hastig, unregelmäßig, endlich langsamer. Der Rhythmus kehrt zurück. Seine Knie werden weich und drohen nachzugeben, er muss sich setzen.

      Der Tod hat angeklopft. Es dauert zu begreifen, dass der Film nicht gerissen ist. Die untergehende Sonne, die Hochhäuser, die Geräusche der Straße, seine Erinnerungen, alles kehrt zurück. Abgetaucht und wieder aufgetaucht. Wie leicht es ist, die Realität zu erschüttern, die Leinwand in seinem Kopf, auf der sein Leben spielt.

      Das Dach ist mit Dachpappe eingedeckt. Sie ist grau und spröde und an einigen Stellen geflickt. Es riecht nach Teer. Unten auf der Straße behindert ein Lastwagen den Verkehr. Eine der Baumkronen hat ein riesiges Loch. Die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser harmonieren nicht, weder in der Farbe noch im Stil. Der alte Mann am offenen Fenster schaut immer noch auf die Straße hinunter.

      Justus starrt auf einen krummen, verrosteten Nagel, der ein Stück von ihm entfernt liegt. Langsam rutscht er zu ihm hinüber, seine Glieder fühlen sich schwach und taub an, als wäre er gerade aus einer Narkose erwacht. Dieses Ding, dieser Nagel, er hat eine Geschichte, die er nie erfahren wird. Irgendwann einmal, als er erschaffen wurde, war er rot glühend wie die untergehende Sonne. Dann wurde er vermutlich mit einem Haufen anderer Nägel verpackt, verschickt und verkauft. Schließlich hat ihn ein Handwerker aus der Schachtel genommen, ihn verbogen und weggeworfen. So oder so ähnlich musste es gewesen sein. Die genaueren Umstände lassen sich nicht mehr rekonstruieren.

      Er fragt sich, wie lange der Nagel schon auf dem Dach liegt und ob er vielleicht von irgendjemand anderem schon vorher bemerkt wurde und wo diese Person, wenn es sie tatsächlich gab, wo sie wohl lebte und was sie gerade machte. Wenn es sie gab, dann hätten sie nun etwas, das sie verband: die Erinnerung an den Anblick eines krummen, verrosteten Nagels auf einem Hochhausdach. Aber aus welchem Grund sollte sich jemand an einen verbogenen Nagel erinnern?

      Er zwingt sich, seinen Blick von dem Nagel zu lösen und steht auf. Die Sonne ist ein Stück tiefer gesunken, der Himmel ist nun ganz in rotes Licht getaucht, und der Alte am Fenster auf der gegenüberliegenden Seite ist es immer noch nicht müde, auf die Straße hinunterzuschauen.

      Justus tritt zwei Schritte vom Rand zurück. Er ist es leid, sich immer wieder zu ängstigen. Einen Moment überlegt er, ob man erst springen kann, wenn die Angst gewichen ist. Vielleicht ist er nun so weit. Vorsichtig tritt er vor und schaut hinunter. Autos, Bäume, Menschen, lauter Dinge. Alles einzeln, alles zusammen. Kann er nun springen? Er weiß es nicht oder will es nicht wissen, weicht wiederum zurück und schaut sich um. Das Dach ist ein schäbiger Ort, nicht gemacht, um Gäste zu empfangen. Er hebt den verbogenen Nagel auf und betrachtet ihn. Ohne sich zu fragen, warum, steckt er ihn in seine Hosentasche. Dann schaut er an sich hinunter. Die schmal geschnittene graue Hose aus teurem Wollstoff schlackert um seine dünnen Beine, das schwarze Hemd mit dem feinen türkisfarbenen Streifen hängt halb aus dem Hosenbund heraus. Die Schuhe allerdings, die Schuhe sind sauber und ordentlich gebunden, so wie es ihn die Tante gelehrt hat.

      Er versucht ein Lächeln. Es gelingt, im Ansatz wenigstens. Dann steckt er das Hemd in die Hose, ohne dabei den schwarzen Ledergürtel zu öffnen. Es ist nicht notwendig, ihn zu öffnen, sein ausgemergelter Körper ist so schmal, dass er bequem eine Hand zwischen Taille und Hosenbund bringt. Nun, da er sich geordnet hat, streicht er über seine eingefallenen Wangenknochen. Er ist kein besonders hübscher Mann, aber auch nicht unansehnlich. Sein labiler Zustand hat ihn gezeichnet, das ist ihm wohl bewusst. Aber seine grünbraunen Augen sind die eines intelligenten Mannes, und sie können einen Menschen allein durch ihren scharfen Blick würdigen oder vernichten. Er ist seit drei Tagen unrasiert und überlegt, ob es verwegen oder verwahrlost aussieht. Ließe er sich einen Bart stehen, wäre dieser wohl schon grau durchsetzt, anders als sein kurzes dunkelblondes Haar, in dem sich nur an den Schläfen ein paar vereinzelte silberne Härchen entdecken lassen.

      Die Sonne steht jetzt so tief, dass nur noch ein Drittel über den Dächern der gegenüberliegenden Häuser herausragt. Das warme, intensive Licht vermag selbst dem trostlosen Dach einen Hauch von Idylle zu verleihen. Er schaut auf den mit roten Backsteinen gemauerten Treppenhausausstieg, sieht die schwere graue Stahltür. Er hat sie aufgeschlossen, dann ist er herausgetreten, er weiß es, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Ihm ist, als wäre er auf diesem Dach geboren worden, als hätte er sein ganzes Leben hier verbracht. Allein. Fast allein.

      Der alte Mann am Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ist er noch da? Justus geht zum Rand zurück und schaut hinüber. Ja, dort steht er, immer noch.

      1. Mai 1982

       Da war so ein merkwürdiges Gefühl in seiner Magengegend, und er spürte den Druck seiner vollen Blase. Er war sehr früh aufgewacht an diesem Morgen, hatte einige Minuten wach im Bett gelegen und versucht, wieder einzuschlafen. Schließlich aber überwand er sich, aus seinem warmen Nest herauszukrabbeln, um die Toilette aufzusuchen. Im Flur erinnerte er sich plötzlich daran, dass er Geburtstag hatte, und in seinem Po kribbelte es wie tausend Ameisen. Heute würden alle nett zu ihm sein. Mama würde lachen und ihn auf den Arm nehmen und ganz sicher keinen Stress haben. Es würden viele Kinder kommen, Mama hatte seine ganze Kindergartengruppe eingeladen. Sie würden alle machen, was er ihnen sagte, denn heute war er der Chef, und keiner durfte meckern. Es würde Kuchen geben und heißen Kakao. Justus liebte den Geruch von heißem Kakao.

       Mit einem Lächeln im Gesicht tapste er den dunklen Korridor entlang und öffnete sehr vorsichtig die Badezimmertür. Man hatte ihm eingebläut, früh morgens, wenn alle anderen noch schliefen, um Himmels willen leise zu sein. Also huschte er auf Zehenspitzen ins Bad und schloss behutsam ab, indem er den Schlüssel ganz langsam drehte, bis es Klack machte. Als er die Toilette sah, wurde der Harndrang plötzlich sehr stark, aber er konnte sich trotzdem nicht sofort entscheiden, ob er sich setzen sollte, wie man es ihm beigebracht hatte, oder ob er wie ein richtiger Mann im Stehen pinkeln wollte. Er entschied, dass Sitzen besser war, weil es so viel einfacher war, nichts Verbotenes zu tun, wenn man kaum noch einhalten konnte.

       Seine Füße baumelten in der Luft, während er sich langsam entspannte und die ersten Tropfen ins Wasser der Kloschüssel plätscherten. Er schaute auf die braunen Fußbodenfliesen, die zu zählen er an diesem Morgen keine Lust hatte. Dann wanderte sein Blick zur Badewanne hinüber.

       Schlagartig erstarrte er. In der Badewanne lag seine Mutter. Nackt. Der Kopf war merkwürdig zur Seite geneigt, das Kinn lag auf der Brust, die Augen waren geschlossen. Ihre langen braunen Haare schwammen im Wasser oder klebten auf ihrer weißen Brust. Und die Lippen … Sie waren so weiß.

       Sein Herz hämmerte, Blut schoss in seinen Kopf. Einen ganz kurzen Moment nur sah er sie an, dann senkte er den Blick zurück auf den Boden, wo er wie festgenagelt verharrte. Seine Hände krallten sich am Toilettensitz fest, er presste die Beine zusammen und spannte die Beckenmuskeln an, um den Urin einzuhalten. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Wahrscheinlich schlief sie … Oder nicht?

       Er lauschte, wartete, ob etwas geschehen würde. Stille. Nichts rührte sich. Es war verboten, Mama nackt in der Badewanne zu sehen. Das hatte ihm zwar niemand gesagt, aber irgendwie wusste er es ganz sicher. Er würde nicht mehr hinsehen. Wenn er sie nicht ansah, dann würde sie ihn vielleicht auch nicht sehen. Vorsichtig versuchte er, seine Muskeln wieder zu entspannen. Es gelang ihm, aber das plätschernde Geräusch des Urins war so unangenehm laut, dass er sofort wieder einhielt.

       Justus rutschte von der Toilette und zog seine Hose hoch. Er schloss den Deckel, ohne abzuspülen, schlich zur Tür und drehte den Schlüssel um, bis es erneut Klack machte. Es war ein lautes Klack, das sich nicht vermeiden ließ und ihn trotzdem erschreckte. Behutsam öffnete er die Tür und huschte aus dem Badezimmer.

       Er dachte nicht darüber nach, was er als Nächstes tun wollte, sondern rannte wie einem Kommando folgend die Treppe hinunter, die in einem langen Bogen in die Eingangshalle führte. Dort standen seine feuerroten Gummistiefel auf der Fußmatte, als hätte sie jemand für

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